Gestern nach der Arbeit sah ich einen Obdachlosen, der in der Fußgängerzone vor einer kleinen Dekoration aus Kopfsteinpflastersteinen hockte und konzentriert die Lücken zwischen den Steinen mit einer weißlichen Masse füllte. Abends spät, als ich am heimischen Bahnhof ausstieg, empfing mich ein Bettler, der direkt vor meinem Kopf die Flamme seines Feuerzeugs aufleuchten ließ. Ich erschrak, besann mich und lächelte ihn an. Daraufhin begann er zu kichern, erzählte mir etwas, was ich nicht wirklich verstand – irgendwas von „weitergehen – nicht so gucken…“ und lief regelrecht davon.
Letzte Woche fragte mich eine Mitarbeiterin des Jobcenters, warum es so viele Obdachlose gäbe, die sogar mit Rollstuhl und Krücken am Bahnhof bettelten. „Was war der Punkt, dass sie so abstürzten? Was brachte sie dazu, süchtig zu werden nach Alkohol und Drogen“, fragte sie regelrecht verzweifelt.
Ist es in ganz Deutschland und Europa so schlimm wie in Dortmund?
Ein junger, extrem nervöser Mitfahrer hatte mir kurz zuvor im Zug erzählt, dass es in Holland ganz anders aussähe und es selbst in Amsterdam kaum Obdachlose gäbe – aber dass es in Belgien noch schlimmer wäre als in Dortmund. So reifte mein Entschluss, den Ursachen der wachsenden Obdachlosigkeit auf den Grund zu gehen.
Dortmund ist toll
Ich habe mit einigen Fachmenschen gesprochen und zum Beispiel erfahren, dass Dortmund so extrem betroffen ist, weil sich die Dortmunder Stadtverwaltung und viele soziale Organisationen für die Obdachlosen einsetzen. In den umliegenden Städten sieht es ganz anders aus – dort wird eher versucht, die Menschen zu vertreiben – darum zieht es immer mehr nach Dortmund.
Bürgersteig-Psychiatrie
Auch habe ich erfahren, dass in den Notschlafstellen weit mehr als die Hälfte der dort Untergebrachten schwer psychisch krank sind. Laut Ärzteblatt sind es sogar 70 Prozent der Obdachlosen, die psychisch krank sind. Sie leiden unter Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Schizophrenie, aggressiven Ängsten, schweren Depressionen und/oder einer eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit. Der Durchschnitts-IQ liegt bei 85.
Viele weigern sich aufgrund der restriktiven Regeln (kein Alkohol, Drogenverbot, freiheitliche Einschränkungen…) in eine langfristige Einrichtung zu gehen. Lieber leben sie auf der Straße, als sich eingesperrt zu glauben. Gerade Menschen mit Sucht-, Aggressions-, Angst- und Verfolgungswahn-Problemen empfinden einschränkende Regeln als extreme Bedrohung. Da auch psychisch Kranke Rechte besitzen, kann man sie nur zu einer stationären Einrichtung zwingen, wenn sie sich dauerhaft selbst- oder fremd gefährdend verhalten. Im Fachjargon spricht man laut Ärzteblatt von der damit verbundenen „Bürgersteig-Psychiatrie“.
Deutsches Ärzteblatt: Psychiatrische Versorgung – Obdachlose sind häufig psychisch krank
Ursachen für Obdachlosigkeit
1. Die Obdachlosigkeit in Deutschland hat sich seit 2023 verdoppelt
2. Erfolgreiche Räumungsklagen steigen an. Immer mehr Menschen verlieren ihre Wohnungen aufgrund von Mietschulden. Aus einer Mietschuldenproblematik heraus eine neue Wohnung zu finden, ist in vielen Regionen nur sehr schwer möglich.
3. Jobcenter zahlen, wenn Menschen in Armut geraten und einen Antrag auf Alimentierung stellen, nur für eine zeitlich begrenzte Anfangszeit zu teure Wohnkosten. Nach dieser Karenzzeit werden diese Wohnkosten nicht mehr vollständig übernommen, sondern dem Grundsicherungsempfänger vom Regelbedarf abgezogen.
4. Miete und Heizkosten werden in der Regel vom Jobcenter direkt an den Leistungsempfänger überwiesen. Leitet dieser die Wohnkosten nicht an den Vermieter weiter, droht schon nach zwei Monaten die Räumungsklage.
5. Zwangsräumung: Da sich die meisten Zwangsgeräumten die Einlagerungskosten nicht erlauben können, bleibt ihnen oft nur eine kleine Menge an Hab und Gut. Die Ämter sind verpflichtet, eine Notschlafstelle anzubieten.
6. Notschlafstellen sind überfüllt und überfordert. In Notschlafstellen gibt es keine Möglichkeit der Privatsphäre.
Bayrischer Rundfunk – Lücke im System: Mehr psychisch kranke Menschen obdachlos
Bürgersteig-Psychiatrie oder Wohneinrichtung?
Betreute Wohnformen in entsprechenden Einrichtungen sind nicht immer möglich: Weigert sich der Betroffene, Medikamente einzunehmen und die erforderlichen Regeln des betreuten Wohnens einzuhalten, wird diese Art von Betreuung irgendwann scheitern. Er oder sie ist weg – und auf der Straße. Abgesehen davon: Die Wartelisten für dauerhafte betreute Wohnformen sind lang.
Wohnformen für Menschen mit Psychose in Deutschland
Meine Erkenntnis
Zum einen habe ich gelernt, dass wir stolz sein können auf Dortmund. Es gibt viele Einrichtungen, in denen sich Obdachlose tagsüber aufhalten können, Verpflegung erhalten, frische Kleidung, Waschgelegenheiten, die Möglichkeit, zu duschen, außerdem Beratung und Betreuung durch Sozialarbeiter/Innen. Auch Alkohol- und Drogenabhängige haben spezielle Aufenthaltspunkte, an denen sie respektiert und unterstützt werden.
Außerdem habe ich bei meiner Recherche folgendes mutmachende Projekt aus den Niederlanden gefunden bei YouTube. Eine 45-minütige einfühlsame Reportage auf Niederländisch mit deutschen Untertiteln, in der Bewohner über ihr Leben in einem „Dorf“ für Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen berichten.
Psychiatrisch erkrankte Menschen hat es schon immer gegeben. Nur gibt es immer weniger die lebendige Tradition, dass die Familie und Nachbarschaft sich um die chronisch kranken Betroffenen kümmert, bzw. damit allein gelassen wird.
Alte und psychisch Kranke…
So wie unsere Senioren im Pflegefall auf staatliche Institutionen angewiesen sind, sind es auch die psychiatrisch Kranken und schwer Süchtigen. Ob es besser oder schlechter ist, wenn Familien nicht mehr die einzige Versorgungsinstitution bei Hilflosigkeit sind, ist schwer zu beurteilen.
„Bürgersteig-Psychiatrie“ war auch für mich zunächst ein schockierender Begriff, doch Freiheit und Selbstbestimmung sind wichtige Rechte der Betroffenen. Und niemand mehr will die grausamen „Irrenanstalten“ vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte, in denen die Kranken rechtlos an ihre Betten gefesselt wurden…