Es lebe die Skrupellosigkeit

Die letzten Tage waren für mich eine schwere Prüfung. Ich hatte tatsächlich Angst vor dem 3. Weltkrieg, gemischt mit Schuldgefühlen, weil ich hier im Warmen und Trockenen sitze – und weil ich nichts Nennenswertes tue, um den leidenden Ukrainern aktiv zu helfen. Ogottogott, dachte ich, jetzt ist es soweit – jetzt bekommst Du Depressionen. Jetzt geht Dir Deine Handlungsfähigkeit verloren, jetzt kannst Du nicht mehr arbeiten. Ohne Optimismus und Zuversicht bin ich nämlich nichts weiter als ein Häuflein Elend. Doch gestern Abend hatte ich den Impuls, eine Frau anzurufen, von der ich weiß, dass sie unabhängig lebt von Schuldgefühlen und Skrupeln. Tatsächlich hat mich dieses Gespräch gerettet und heute geht es mir wieder gut. Hier die Erkenntnis, die ich daraus gewonnen habe: „Es lebe die Skrupellosigkeit!“

Die Corona-Zeit hat uns konfrontiert mit unserer Angst vor dem Tod. Die Corona-Zeit hat uns gezwungen zu entscheiden, ob wir unseren Regierungen vertrauen oder ob wir misstrauisch sind gegenüber den „Mächtigen“. Nun kommt eine ganz neue Herausforderung über uns: Die moralische Verpflichtung, uns zu positionieren in einem Krieg. Sind wir bereit, aktiv zu helfen? Sind wir dafür, dass Männer und Frauen für den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit in die Schlacht ziehen? Würden wir das auch tun, wenn es um unser Land ginge? Beziehungsweise werden wir das tun, wenn der Krieg eskaliert?

Bild von Sarah Richter auf Pixabay 

Ein Hoch auf die Skrupellosigkeit

In den letzten Tagen habe ich an mir die ersten Anzeichen von Depression entdeckt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich im Angesicht des Leides esse und trinke, weil ich heizen kann und mich frei bewegen. Ich habe im Unterbewusstsein ein altes Muster gelebt, das ich seit meiner frühesten Kindheit kenne „Wie kann ich das Brot genießen, das ich einem Hungernden entreiße“? Als Kind waren es die hungernden Kinder aus dem damaligen afrikanischen Biafra (heute Teil Nigerias), die mich an den Rand der verdienten Hölle getrieben haben, jetzt sind es die Bilder aus der Ukraine, die mich vor mir selbst verurteilen.

Leider kann mich nicht retten, dass ich mich mit all meiner Kraft für den Kampf der Ukrainer und die Sicherheit der Geflüchteten  einsetze. Warum? Weil ich gerne so leben wie ich lebe. Weil ich verwöhntes Gör keine Lust habe, mein schönes bequemes, gemütliches Leben aufzugeben. Weil ich mich seit 63 Jahren damit arrangiert habe, unentwegt das Brot einem Hungernden zu entreißen. Ich will meinem schlechten Gewissen nicht die Macht geben, mich zu treiben. Ich will echt sein! Ehrlich und direkt, spontan und unverfroren. Ich will meinen Humor und meinen Übermut behalten, bis ich den letzten Atemzug tue. Egal, wo und wie. Ich will mich nicht von meiner Moral tyrannisieren lassen.

Es lebe die Skrupellosigkeit

Meine Coachees schätzen an mir meine gute Laune und meine Fähigkeit, strategisch zu denken. Beide Eigenschaften beruhen auf einer gewissen Kühle.

Ich habe es häufig mit schweren Schicksalen zu tun, mit Ausweglosigkeit, Verzweiflung, Selbstverurteilungen, Gewalterfahrungen, Todessehnsucht. Meine Coachees schätzen an mir, dass ich pragmatisch und gelassen zuhören kann.

Ich fühle mich nicht verpflichtet, ihnen Geld zuzustecken, wenn sie nichts mehr zu essen haben. Ich überlege lieber mit ihnen, wie sie an Geld kommen können – als Coach eben. Und Coach sein ist mein Beruf, keine karitative Wiedergutmachung für mein behagliches Leben. Und auch keine Versicherungseinzahlung dafür, dass mir selbst jemand helfen wird, wenn ich Mal am Verhungern bin. Ich liebe die Egoisten genauso wie die sich Aufopfernden. Ich lache mit den Tätern wie mit den Opfern. Bei mir muss niemand etwas beweisen – egal wie Du bist, es ist ok für mich!

Es lebe die Skrupellosigkeit! Ich behaupte sogar, dass wir nur dann wirklich „echte Menschen“ werden können, wenn wir komplett skrupellos geworden sind. Skrupel bedeutet laut Definition: „Eine auf moralische Bedenken beruhende Hemmung“.

Vielleicht würde ich sogar mein heiliges Arbeitszimmer einem geflüchteten Ukrainer zur Verfügung stellen, der aus purer Skrupellosigkeit den Kriegsdienst verweigert hat und desertiert ist. So ein Hallodri würde mir vielleicht so imponieren, dass ich doch schwach würde.

Aber er müsste sich die Unterkunft und die Versorgung verdienen, indem er Aufgaben im Haushalt übernimmt – fair würde es zugehen zwischen uns Hallodris. Fair, skrupelfrei und übermütig. Und wenn ich keine Lust mehr hätte auf die WG,  müsste er sich etwas Anderes suchen.

Leute, traut Euch, skrupellos zu sein. Skrupellos zu sein heißt nicht, herzlos zu sein, Skrupel sind genau so fremdbestimmt wie alle anderen Formen von Selbstzweifeln auch.

Skrupelfrei können wir uns fröhlich und ehrlich in die Augen schauen und akzeptieren, dass jeder Mensch von Geburt an die eigenen Interessen nach vorn stellt. Das heißt nämlich leben: Die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse fordern. Erst durch Schreien, dann durch Lächeln, später durch immer ausgeklügeltere soziale Strategien. Und das ist ok.

Doch hinter dieser irdischen Überlebensstrategie ist jeder von uns eine wunderbare, einzigartige, kostbare Seele. Traut Euch, ganz Ihr Selbst zu sein. Es ist ok. Es lebe die Freiheit von Skrupeln.

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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