Ghosting: Verwerflich oder hilfreich wie das Abreißen eines Pflasters

Ghosting ist ein Begriff, der wohl eng verbunden ist mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter. In der Liebe bedeutet es, sich bei einer Paarbeziehung nicht mehr zu melden. Im Bewerbungsprozess erhalten Bewerber keine Antwort vom suchenden Unternehmen, oder Arbeitgeber warten vergeblich auf den oder die neue Mitarbeiterin. Man macht sich unsichtbar, wird zum Geist. In den Medien wird Ghosting negativ bewertet: Egoistisch, feige, skrupellos, respektlos. Aber ist das so?

Wir alle sind wahrscheinlich „Ghoster“, wenn es darum geht, Webseiten einen Korb zu erteilen. „Dürfen wir Dir Benachrichtigungen zusenden?“ „Nein“. Wir bestellen Newsletter ab, blockieren aufdringliche Anbieter und unbekannte Mobilnummern.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Singles, die auf Dating-Plattformen nach dem oder der „Richtigen“ suchen, antworten nur dann auf Nachrichten, wenn ihr Interesse geweckt ist. Erlahmt dieses Interesse später, reagieren sie nicht mehr auf Nachrichten und Anrufe. Unternehmen, die an neuen Mitarbeitern interessiert sind, filtern die Bewerbungen emotionslos und sehen zu, dass abgelehnte Bewerber sich nicht ermutigt fühlen, telefonisch nachzufragen.

Das Ghosting-Zeitalter

Nur die Wenigsten sind in der Lage, sich einzugestehen, wie revolutionär die digitale Zeitenwende auf uns Menschen einwirkt. In der Kommunikation ist alles möglich – dementsprechend sind die Gefahren. Seit Corona hat sich eine zusätzliche Veränderung ergeben: Spaltungen und Vereinzelungen sind auch nach den Lockdowns wirksam. Viele haben sich damit abgefunden, allein zurechtkommen zu müssen. Ghosting ist kein psychologisches Phänomen von Narzissten und Egomanen, Ghosting ist ein Abwehrinstrument, um nicht verschlungen zu werden von den Ansprüchen der Bedürftigen.

Verhungernde auf den Dächern

Heute Nacht träumte ich, ich würde durch eine Straße mit hohen Häusern laufen. Auf allen Dächern sah ich Pferde und Kühe, die mit ihren Jungen dem Hungertod preisgegeben waren. Sie hatten nicht einmal mehr die Kraft, zu schreien. Sie waren still, abgemagert, in ihr Schicksal ergeben. Es gab keine Treppen hinauf, und die Aufzüge waren funktionslos.

Ich ging so emotionslos an dem Leid vorüber, wie ich es tagtäglich tue, wenn ich in der City von Dortmund an den unzähligen Bettlern und Bettlerinnen tue. Manche sind fordernd, andere so still wie die Pferde und Kühe auf den Dächern in meinem Traum. Ich ghoste Bettler. Ich überlasse sie ihrem Schicksal.

Ghosting akzeptieren? Was dann?

Das Einzige, was ich besitze im Zeitalter des unabwendbaren Ghostings, ist meine Ehrlichkeit. Ich habe die Gabe, gern zu schreiben, und ich schreibe täglich. Ich führe einen möglichst aufrichtigen Dialog mit mir selbst, und ich bin bereit, mich in meiner Unzulänglichkeit und emotionalen Skrupellosigkeit zu respektieren.

Ehrlichkeit ermöglicht uns, „Ja“ und „Nein“ zu sagen. Ehrlichkeit ermöglicht uns, unsere Glaubenssätze zu überprüfen, die durchsetzt sind von moralischen Gesetzen: Du musst nützlich sein, Du musst gehorchen, Du musst gefallen, Du musst besser sein als die Anderen. Du musst stark sein, Du musst gut sein.

Ehrlichkeit führt dahin, sich freizumachen von Fremdbestimmung. Und was noch viel bedeutender ist: Ehrlichkeit führt dazu, seinen Nächsten lieben zu können wie sich selbst. In Freiheit kann ich auch dem Bedürftigen und Energie-Entziehenden empathisch zugewandt sein, da ich mich nicht verpflichtet fühle, ihn von seinem Schicksal zu befreien. Ich habe Respekt vor seinem Schicksal.

Das Pflaster von der Wunde reißen

Ein „Nein“ ist immer wie das Abreißen eines Pflasters. In der Corona-Zeit habe ich erlebt, wie eine Freundin und Kollegin von mir plötzlich nur noch höflich auf meine Nachrichten reagierte. Rief ich sie zu einem verabredeten Termin an, hatte sie diesen vergessen und gerade keine Zeit. Ich verstand, dass sie keinen Kontakt mehr wollte und keine Lust hatte, die Gründe dafür zu nennen. Es war ihr Recht! Ich war zwar traurig, da ich sie sehr mag, aber ich war dankbar für das Abreißen des Pflasters. Die Zeit heilte meine Wunde. Wenn ich heute an sie denke, tue ich das in Liebe und Anerkennung.

Ghosting ist ok

Wir können nicht die Welt retten. Nicht einmal Jesus konnte alle Kranken heilen und alle Hungernden nähren. Die Welt ist durch die Digitalisierung geschrumpft. Es ist nicht mehr wie in einer Dorfgemeinschaft, in der alle ihr Leben lang zusammenbleiben, alle zusammenhalten. Ehen und Familien gehen auseinander, viele Menschen sind Nomaden oder siedeln sich dauerhaft ganz woanders an. Es ist unmöglich, die Flut an bedürftigen Menschen zu befriedigen.

Ob eine Aussprache bei einer Absage oder Trennung das Richtige ist, muss von beiden Seiten entschieden werden. Arbeitgeber, die Bewerber ghosten, müssen ebenso mit den Konsequenzen leben wie Beziehungspartner, die ohne längere Trennungsverarbeitung gehen, ohne sich der Auseinandersetzung zu stellen. Es ist, wie es ist. Und so ghoste ich weiter die vielen verzweifelten Bettler in den Straßen des weiter verelendenden Molochs, so wie die Pferde und Kühe in meinem Traum.

„Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.“

Bertolt Brecht – An die Nachgeborenen

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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