Das Zeitungssterben geht weiter. Vor allem bei Regionalzeitungen sinkt die Auflage (angeblich haben in meiner Heimatstadt Witten – knapp 100.000 Einwohner – nur noch 3.000 Haushalte die WAZ abonniert!) weiter. Meist abonnieren nur noch ältere Menschen die regionale Tageszeitung. Die jüngeren haben sich daran gewöhnt, dass sie in ihren persönlichen Bezugsgruppen leben, ohne Bezug zu Ortsereignisse und Lokalpolitik. Da man als junger Mensch aus beruflichen Gründen häufiger umzieht, ist die Identifikation mit dem Ort, in dem man wohnt, sowieso geringer als bei Menschen, die in ihrer Heimat stark verwurzelt sind.
Doch was passiert, wenn Lokaljournalismus an Bedeutung verliert? Nicht nur, dass Todesanzeigen kaum noch wahrgenommen werden (unterschätzt nicht die Wichtigkeit davon, wenn ein Mensch die „kosmische Adresse wechselt“! Wenn die Identifikation mit dem Ort, in dem ich lebe, verloren geht, weil die Bürger nicht mehr mitbekommen, was für Entscheidungen getroffen werden in der Politik – und was für Projekte in der Bürgerschaft entstehen, welche Veranstaltungen stattfinden und wie es um Wirtschaft und Infrastruktur steht – entsteht eine räumliche Unverbindlichkeit, die zu sozialer Kälte und Anonymität im Zusammenleben führt.
Ich habe keine Lösung parat, doch es MUSS eine gefunden werden. In dem Lokalteil meiner heimatlichen Regionalzeitung aus der Funke-Medien-Gruppe liegen die meisten Artikel hinter einer Paywall. Sollte ich mich für ein Print-Abonnement entscheiden, wären das rund 40 Euro monatlich. Allein schon die WAZ+ – Online-Artikel kosten 10 Euro monatlich! Kein Wunder, dass die Menschen es eher hinnehmen, sich nicht weiter mit ihrer Gemeinde zu identifizieren, als dass sie in digitalen Zeiten einer einzigen Zeitung so viel Budget zukommen lassen. Es gibt ja vielerorts nicht einmal mehr konkurrierende Regionalzeitungen – und die journalistische Qualität der Artikel ist enorm gesunken.
Lokaljournalismus ist wichtig, weil…
- wir ohne lokale Informationen den Bezug zu dem Ort verlieren, in dem wir leben
- wir politisch nicht mündig sind, wenn wir nicht einmal über die politischen Entscheidungsprozesse Bescheid wissen
- wir uns nicht auf Veranstaltungen treffen können, wenn wir nichts davon erfahren
- wir uns nicht in Projekten zusammenschließen können, wenn wir nichts davon erfahren
- wir die lokale Wirtschaftslage nicht einschätzen können und wir keine Informationen zu Unternehmen erhalten
- wir nicht mehr mitbekommen, welche Persönlichkeiten und Gruppen Herausragendes tun für die Gemeinde, die Region, das Land, die Welt
- wir nicht mehr erfahren, wenn jemand gestorben ist. Damit geht ein Teil der Würde des Individuums verloren. Wir sterben so, wie ein Sonderangebot nach Ablauf stirbt
- wir das soziale, kulturelle und institutionelle Geschehen in unserer Stadt nicht überblicken können. Wir leben „irgendwo“.
Wer ist noch bereit, für die regionale Tageszeitung zu zahlen?
In analogen Zeiten gab es keine Alternative zur regionalen Tageszeitung. Im Mantelteil erfuhr man Einiges über Weltpolitik, Deutschland, die Region und über Sport. Da waren monatliche Abo-Preise von 40 Euro angebracht.
Heute haben wohl fast alle (so wie ich) eine Strategie entwickelt, um sich über verschiedene Quellen online zu informieren. Ich selbst habe rund zwanzig überregionale Zeitungen aus dem DACH-Raum kostenlos abonniert und lese häufig mehrere Berichterstattungen zum gleichen Thema. Darauf könnte ich nicht mehr verzichten. Nur noch einer einzigen Quelle vertrauen? Kann ich mir nicht vorstellen.
Außerdem lese ich nur noch Artikel zu den Themen, die mich interessieren. Als ich vor einiger Zeit einmal eine Sonntagszeitung kaufte, blätterte ich nur von einer Seite zur nächsten und kommentierte in meinem Kopf „Interessiert mich nicht – interessiert mich nicht – interessiert mich nicht…“ Ich bin zwischenzeitlich total verwöhnt! Ich lese nur noch, was mich anzieht – und ich fahnde nach Zusatzinfos, um in die Tiefe zu gehen.
In unserem Mietshaus leben sieben Parteien. Zwei davon haben die WAZ abonniert. Die Mieter dieser beiden Haushalten sind älter als siebzig Jahre alt. Die jüngeren Nachbarn und ich kämen nicht einmal auf die Idee, sich ein Abonnement zuzulegen – allein schon der ganze Papiermüll wäre uns zuwider. Und die Digital-Ausgaben machen so wenig Spaß, dass sie weiterhin ein Mauerblümchen-Dasein fristen.
Wie die Schweizer Werbewoche berichtet, informieren sich laut einer Umfrage 82 Prozent online über News. TV-Nachrichten schauen 65 Prozent, Printzeitungen lesen nur noch 28 Prozent. Nur 16 Prozent der Befragten sind bereit, für Online-Berichterstattungen zu zahlen. Im Anstieg sind Online-Videos, 67 Prozent greifen auf diese Form der Medienberichterstattung zurück.
werbewoche.ch: Nur 16 Prozent zahlen für Online-News
Der Lokalteil kommt natürlich bei all diesen Varianten schlecht weg. Aber kann sich es unsere Demokratie tatsächlich leisten, den Kern von gesellschaftlicher Identifikation aufzugeben? Kommt nun nach der Identifikation mit der Blutsfamilie ganz lange gar nichts mehr, was räumlich einzuordnen ist?
Ich wünsche mir, dass Lokaljournalismus wieder neu entsteht – abseits der großen Verlagsgruppen. Doch auch „Bürgerreporter“, die über Politik, Kultur, Soziales, Infrastruktur, Gemeinschaftsaktivitäten und „Blaulicht“-News berichten, müssen bezahlt werden. Ehrenamtlich geht das nicht.
Ob die Rundfunkgebühren neu verteilt werden sollten? Ob ein Lokaljournalismus „von unten“ entstehen könnte, der von Profis moderiert wird und der demokratisch im Redaktions-Team entscheidet, was wann wo und wie in einem Online-Lokalteil erscheint? Wir brauchen Mitgestaltung des lokalen Raums! Sonst werden wir umher geweht wie in Blättchen im Herbstwind…
WDR: Sollte der Lokaljournalismus staatlich gefördert werden?