Ich erinnere mich daran, wie ich Anfang der Neunziger Jahre in dem Kinofilm „Bodyguard“ war. Der Film hatte mich dermaßen mitgerissen, dass ich nach dem Kinobesuch mitten in der Nacht auf den Helenenberg stieg und dem Schicksal schwor, ich wolle den Rest meines Lebens „Held“ sein. Nicht Täter, nicht Opfer, nicht Zuschauer – sondern Bodyguard wie Kevin Costner in „The Bodyguard“. Damals war ich 34 Jahre alt. Kann mich immer noch daran erinnern, wie sich das anfühlte. Habe den nächtlichen Schwur bei stürmischem Wind in Erinnerung – kann Wunschdenken sein – auf jeden Fall war es Winter 1993. Doch stimmt das? Haben wir Menschen die Wahl zwischen Täter, Opfer, Zuschauer oder Held?
Täter, Opfer, Zuschauer, Held
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der sämtliche Erwachsene meiner Umgebung aus Opfern und Zuschauern bestanden. Die Einen waren in der Nazizeit nach eigenem Empfinden Unbeteiligte gewesen und haben von Nichts etwas gewusst, die anderen haben schrecklich gelitten – in der Regel unter den Bombenangriffen und dem Hunger nach Kriegsende.
Als ich langsam zur Jugendlichen heranreifte, verstand ich nach und nach, dass es natürlich auch viele Menschen gab, die begeisterte Befürworter des National-Sozialismus waren und so einige persönliche Vorteile hatten durch ihre Regimetreue.
Außerdem gab es da noch die vielen überlebenden Soldaten, die jedoch in meiner persönlichen Umgebung nur äußerst ungern über ihre Kriegstaten und Kriegsleiden sprachen.
Meine Mutter (Jahrgang 33) gehörte zu den Opfern. Sie empfand den Bomben-Krieg im Ruhrgebiet fast als Erleichterung, weil sie die deutsche Herrenmensch-Gesellschaft als kleines Kind beängstigend und grausam fand. 1944 war die Herrenrasse dann endlich kleinlaut geworden. Da war meine Mutter 11 Jahre alt.
Täter, Opfer, Zuschauer, Held???
„Zeugen sind selten Helden, echte Helden bezeugen selten…“ sang Herman van Veen 1973 auf seinem Album „Ich hab ein zärtliches Gefühl“. Ich war zwar noch sehr jung, doch intuitiv verstand ich, was er damit meinte. Held zu sein, bedeutet, gefährlich zu leben. Wer will das schon? Und wozu?
Heute ist die Zeit des National-Sozialismus lange her. Während unsere Eltern und Großeltern sich bemühten, als unbeteiligte Zuschauer des tausendjährigen Reichs keinen Ärger zu bekommen, waren wir Nachkriegsgeborenen unerbittliche Richter der Erwachsenen. Wer noch lebte, hatte bewiesen, dass er kein Held war. Entweder war er feiger Zuschauer des Unrechts, Mitläufer oder Täter. Punkt, aus, Ende. Dass meine Eltern Kinder waren in der Nazizeit, war für mich kein ausreichender Entschuldigungsgrund.
Heute gehöre ich selbst zu den „Erwachsenen“, den Schuldigen. Schuldig an den psychischen Qualen der Söhne, Töchter und Enkel meiner Generation, schuldig an einem CO2-vergifteten Kosmos als „Was-auch-immer-Verbrecher“, schuldig an der versauten Zukunft der Jugend durch die Renten, die sie für uns zahlen müssen. Ich muss lächeln. Im National-Sozialismus waren alle nur unschuldige Zuschauer, heute sind alle nichts weiter als bemitleidenswerte Opfer.
Menschen, hilflos wie abgerichtete Schäferhunde
Aufgrund meiner beruflichen Ausrichtung denke ich viel nach über abgerichtete Schäferhunde, die in ihrer Welpenzeit vorsätzlich gequält und zum Gehorsam gezwungen wurden, sodass sie heute nach oben devot kuschen – und nach unten brutal treten.
Ja, auch solche Menschen gibt es, und man kann sie in besonders krassen Fällen nur noch in geschlossenen Einrichtungen fernhalten von der Gesellschaft, weil sie gefährlich sind in ihrem traurigen Schicksal. Sie haben keine Wahl. Sie können sich höchstens zusammenreißen.
Haben wir alle keine Wahl?
Je mehr ich mich mit der Aufarbeitung trauriger Biografien auseinandersetze, desto mehr wächst in mir das Vertrauen, dass der Mensch sehr wohl eine Wahl hat. Ich habe in den letzten Jahren Wunder erlebt, bei denen aus Angstgelähmten selbstwirksame Schöpfer ihres eigenen Lebens wurden. Diese Wunder intensiv miterleben zu dürfen, war großartig und macht mich weiterhin sehr glücklich.
Doch ich erlebe auch, dass es viele Menschen gibt, die sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Opfer eingerichtet haben und keinerlei Willen haben, zum Schöpfer ihrer Zukunft zu werden. Natürlich wäre es ihrer Ansicht nach eine Lösung, im Lotto zu gewinne. Reichtum wird gerade in unserer Zeit als extrem erstrebenswertes Ziel empfunden. Der libertäre Kapitalismus ist heute weltweiter Hegemon, und viele Menschen glauben daran, sich vom Universum große Geld-Schecks und die Vereinigung mit dem idealen Seelenpartner wünschen zu können. Was für ein Kindergarten!
Opfer, Täter oder Held?
Die drei Positionen im psychologischen Beziehungsmuster Drama-Dreieck sind Opfer, Täter und Retter. Der Ausweg aus dem Drama-Dreieck wird in der Position des „Neutralen“ gesehen. Ich würde dazu sagen, in der Rolle des „Was geht mich das an?“. Opfer ist schlecht, da handlungsunfähig ausgeliefert, Täter/ Verfolger ist schlecht, da dominant und unterdrückend. Retter ist schlecht, da manipulierender Moralist. Aber ein Zuschauer zu sein, ist super? Warum? Weil man dann seine Hände in Unschuld wäscht?
Held oder Nicht-Held?
Ich selbst lege vor allem Wert auf meine Selbstwirksamkeit. Als „Opfer“ angesehen zu werden, macht mich wütend. Ich bin der Herrscher meines Lebens – und glaubt mir, meine Kindheit war wahrlich kein Zuckerschlecken. Da bin ich schon etwas stolz drauf.
Als „Täter/ Verfolger“ Lustgewinn zu erhalten, funktioniert bei mir nicht. Menschen oder Tiere beherrschen zu können, löst bei mir sofortige Fluchtbewegungen aus. Nicht, weil ich ein guter Mensch bin, sondern einfach deshalb, weil ich devote Menschen und Tiere gruselig finde.
Neutraler Zuschauer zu sein, wende ich an, wenn ich das Gefühl habe, ich kann nichts verändern. Ob es persönliche Begegnungen sind, emotionale Beziehungen oder das allgemeine Geschehen: Wenn etwas über meine Einflusssphäre hinausgeht, werde ich zum neutralen Zuschauer – oder ich schreibe darüber wie damals während der Coronazeit im Januar 2021 (die Videoreportage ist heute nicht mehr verfügbar. War wohl zu grausam) Corona in Pflegeheimen: Wie lange sehen wir dem Leiden und Sterben noch zu?
Held zu sein, gefällt mir. Ich bin selbstwirksam, fühle mich wie in einem Märchen, strahle und habe die Möglichkeit, spannende Abenteuer zu erleben. Ich brauche keinen Urlaub, ich bin ja Held 😉
Natürlich bin ich kein Held. Ich habe keine Kriegsdienstverweigerer aus dem Ukrainekrieg bei mir aufgenommen, habe keine Demos vor Pflegeheimen in der Isolationszeit organisiert, lasse alles Elend auf dieser Welt zu, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Selbstwirksamen
Ich möchte mit den Menschen zusammenarbeiten, die in ihrer Selbstwirksamkeit leben und die Spaß daran haben, den nächsten Schritt zu tun – und sei es der Schritt hin zum Flaschensammler mit Rollator (habe eine Rentnerin kennengelernt, die jeden Tag Flaschen sammelt – war beeindruckend!).
Helden sind selbstwirksam, darauf kommt es mir an
Ich kenne Menschen, die nach Deutschland kamen, nachdem sie ihre Kindheit in bitterster Armut und Krieg verbracht haben. Menschen, die irgendwo in Osteuropa im Kinderheim aufgewachsen sind – weil sie in ihrer Familie lebensbedrohlich gequält wurden. Menschen, die schon mit vierzehn Jahren auf dem Bau geschuftet haben, weil sie nicht zur Schule gehen durften.
So viele Selbstwirksame, so viele Kämpfer, so viele tüchtige Leute. Mit diesen Menschen gemeinsam etwas tun für eine gute Zukunft, das macht Spaß. Leben ist nun mal kein Wunschkonzert – aber handlungsfähig kann man immer sein: Im Frieden wie im Krieg…