Glücklich werden, glücklich sein: Die Smartwatch-App „Happimeter“

Forscher des Massachusetts Institutes of Technology (MIT) haben, wie das Online-Magazin „Watson“ berichtet, eine App entwickelt, die in Kombination mit einer Smartwatch das derzeitige Glücksempfinden des Trägers misst – und Empfehlungen gibt, um das Glücksgefühl zu steigern. Dabei scheinen Schlaf, Sport und das Meiden „lamentierender Menschen“ eine wichtige Rolle zu spielen. Ich stelle mir also vor, dass wir – ob jetzt mit dieser App „Happimeter“ oder einer anderen technischen Innovation, permanent unseren Glückspegel messen, so wie Schrittzahl und Herzfrequenz. Wäre es da nicht leichter, wir würden einfach Glückspillen schlucken wie im Roman „Schöne neue Welt“?

Unser Jahrhundert vom „Streben nach Glück“

Menschen, die naturnahe, konsumferne Kulturen besuchen, sind oft überwältigt davon, wie glücklich die Menschen dort zu leben scheinen. Herzlichkeit, Mitgefühl, Spaß und die kindliche Freude an kleinsten Dingen scheinen am Besten da zu gedeihen, wo die individuellen Ansprüche des Einzelnen eine untergeordnete Rolle spielen. In Wohlstandskulturen hingegen, in denen das „Streben nach Glück“ zur neuen Religion geworden zu sein scheint, sind Depressionen, Burnouts, psychatrische und psychosomatische Erkrankungen ständige Begleiter der Menschen geworden. Ob das daran liegt, dass wir das, was uns wirklich glücklich macht, nicht erkennen können? Könnte ein Glücks-Algorithmus hier Abhilfe schaffen?

Was könnte idealerweise so ein computergesteuerter Algorithmus leisten?

Ich stelle mir vor, dass mein komplettes Verhalten in Echtzeit gemessen wird. Diese Messdaten werden zusammengebracht mit dem, was ich aktiv ins System einspeise an Erwartungen, Empfindungen, Erinnerungen, Bewertungen. Hinzu kommen Erkenntnisse aus der datenbasierten Anamnese von Genmaterial, Persönlichkeit und Statur.

Das System weiß also sehr genau, wie mein derzeitiger Gemütszustand ist. Es gibt glücksbringende Empfehlungen anhand der bisherigen Erfahrungen – und anhand von Wertesystem, die gesellschaftlich vorgegeben sein können oder von mir einprogrammiert. Die Gesellschaft wird wohl eher Interesse an leistungssteigernden und systemförderlichen Maßnahmen haben (Sport, Yoga, Wettbewerb, intellektuelle Beschäftigungen, ehrenamtliches Engagement etc.) – ich selbst möchte vielleicht lieber Hormon-Kicks wie Shopping, Alkohol, Sex, Drogen, Statusaufwertung, Bestätigung, Macht oder aufregende Erlebnisse mit hohem Erinnerungswert.
Hier geht es zur Happimeter-APP

Ich frage mich, ob es überhaupt je Apps geben wird, die dem Träger auch gesellschaftsschädigende Glückstipps geben können. Oder ob auch in westlichen Systemen die datenbasierte Mustererkennung so wie in China eingesetzt wird, um pädagogischen Einfluss auf das Individuum auszuüben. Was bedeuten könnte, dass schon Schulkinder lernen, Sport, Leistung, Anerkennung und soziales Verhalten machen glücklich. Egoistisches, skrupelloses, süchtigmachendes „Streben nach Glück“ sind destruktiv und werden wegkonditioniert.

Schöne neue Welt nicht wahr? Wie weit weg ist also eine solche „Glücks-App“ oder auch „Glücks-Unterricht“ von der Dystopie des ferngesteuerten Individuums? Ist es wirklich unser wichtigstes Ziel im Leben, möglichst durchgängig glücklich zu sein? Wenn es tatsächlich das höchste Streben des Menschen ist, sollten wir dann nicht tatsächlich das optimale Medikament entwickeln, dass uns emotional mit den naturverbundenen, angeblich so glücklichen Urvölkern auf eine Stufe stellt? Wäre doch super, wenn Familien, Nachbarn, Kollegen und alle anderen soziale Organismen strahlend und freundlich miteinander arbeiten, lieben und feiern würden? Oder???

Das Streben nach Glück – oder das Streben nach Sinn?

Ich habe mich beruflich mit ganzer Leidenschaft der Philosophie des Marketings verschrieben. Ich finde es großartig, dass  das „Streben nach Glück“ Grundlage ist für die Entwicklung emanzipatorischer, individuell ausgerichteter Gesellschaften. Bei aller Kritik an Kapitalismus und Imperialismus sehne ich mich nicht nach der Erfahrungswelt des „glücklichen Eingeborenen“, der hunderte von Jahren am selben Fleck genau so lebt wie seine Ahnen – ohne zu forschen und ohne die treibende Unzufriedenheit des Strebenden.

In der Maslowschen Bedürfnispyramide (hier bei Wikipedia) heißt es, dass der Mensch durch verschiedene Stufen durch muss, um zum eigentlichen Sinn des Lebens zu gelangen. Nur wenn sein Streben nach den körperlichen, sicherheitsgerichteten, sozialen, lustorientierten, intellektuellen und emanzipatorischen erfüllt sind, fragt er sich nach dem Sinn des Lebens. Warum bin ich hier? Was treibt auch dann noch an, wenn ich glücklich verheiratet bin, ein gutes Gehalt beziehe, von der Gesellschaft anerkannt werde, ein stabiles soziales Umfeld habe und mich frei bewegen und entwickeln kann? Ist es wirklich nur der Wunsch nach „Reisen“ und dem „gemütlichen Heim“, der dann noch bleibt?

Dietrich Bonhoeffer hat im Nazi-KZ das bewegende Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ geschrieben. Der Mann hatte seinen inneren Frieden gefunden, wusste sich geborgen und anscheinend nicht mehr abhängig von Glück. Auch Che Guerara scheint dieses Gefühl, das stärker ist als Glück, gekannt zu haben. Ich bin der Überzeugung, dass tatsächlich ganz oben auf unserer Entwicklungsgeschichte der „Sinn“ steht, und dass „Glück“ nur ein Durchlaufstadium ist, um sich dieser Urfrage des Menschseins zu nähern. Der Apfel der Erkenntnis hat uns aus dem Unwissenheits-Paradies geschleudert – ab jetzt geht es nur noch voran.

Und doch bin ich besorgt, ob diese Pyramide der Menschheitsentwicklung regelrecht abgesägt wird durch die technische Fremdbestimmung, in die wir täglich weiter hineinwachsen. Wenn ich auf China blicke, sehe ich auch unsere nahe Zukunft vor mir. Vielleicht fallen wir zurück auf das naiv glückliche Stadium des Unwissenden, der lieber gehorcht anstatt als sich zu befreien. Man wird sehen, was gewinnt: Das Streben nach Glück oder das Streben nach Sinn.

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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