Als ich mich im Jahr 2004 mit der Gründung einer eingetragenen Genossenschaft für Existenzgründer selbstständig machte, gab es in Deutschland mit den Hartz-Reformen einen gesellschaftlichen Umbruch, der die Schicht derjenigen, die zu den Sozialhilfe-Empfangenden zählten, gigantisch vergrößerte: Alle, die länger als zwölf Monate arbeitslos waren, kamen in Hartz IV und zählten plötzlich zu den Menschen, die aus gesundheitlichen oder persönlichen Unzulänglichkeiten heraus nicht arbeiteten bzw. arbeiten konnten oder wollten.
Der „arme Mann Europas“ im Jahr 2004
Zwar gab es damals eine sehr hohe Arbeitslosenquote und die meisten der (häufig hervorragend qualifizierten) Arbeitslosen litten sehr unter ihrer Arbeitslosigkeit, doch man glaubte, durch die Reform würde auch ein Ingenieur als Pizzafahrer arbeiten und berufstätige Ehepartner wären bereit, ihren arbeitslosen Partner zu finanzieren und somit den Steuerzahler zu entlasten. Doch etwas ganz anderes ist passiert: In den fast zwanzig Jahren Hartz IV (heute Bürgergeld) haben sich auch innerlich die Menschen, die arbeitslos sind, verändert.
Damals konnte die Gründergenossenschaft vielen Menschen dabei erfolgreich helfen, dem Hartz-IV-Los zu entgehen, indem diese sich vor Ablauf der ersten zwölf Monate Arbeitslosigkeit selbstständig machten – größtenteils mit einer sechsmonatigen Unterstützung in Höhe des zuvor bezogenen Arbeitslosengeldes. Zusätzlich wurden zahlreiche Begleitmaßnahmen unterstützt wie Gründungsberatung, Gründercoaching, Gründer-Netzwerke sowie Weiterbildungen und Veranstaltungen für eine neue Schicht von Selbstständigen, die mit Eigenverantwortung, Lernbereitschaft und Fleiß ihr neues Leben erfolgreich aufbauten.
Aus Ingenieuren wurden freiberufliche Dozenten und Webdesigner, aus Betriebswirtschaftlern Interims-Manager und Buchhalter, aus Erziehern und Sozialpädagogen in Anstellung wurden Freelancer im riesigen Bereich der sozialen Dienstleistungen – und aus Programmierern wurden SAP-Experten und IT-Agenturen. Wir konnten über 500 Gründungen begleiten, und so gut wie niemand ist je wieder in die Arbeitslosigkeit zurückgefallen. Mit diesem Trieb zur beruflichen und finanziellen Unabhängigkeit findet sich immer wieder eine Nische – selbst im Rentenalter noch.
Der „arme Mann Europas“ im Jahr 2024
Nun kommen wir in eine erneute Zeit, in der Deutschland in den internationalen Medien immer häufiger als „armer Mann Europas“ bezeichnet wird. Doch die Eigenverantwortlichkeit der arbeitsfähigen Bevölkerung scheint so gesunken zu sein, dass man kaum noch jemanden findet, der bereit ist, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Existenzgründer sind regelrecht ausgestorben.
StartUps hingegen sind meist Teams von Hochschul-Absolventen oder Studierenden, die im Netzwerk von Investoren, Wirtschaftsförderungen und Professoren mit innovativen Ideen eine disruptive Geschäftsidee auf den Markt bringen wollen, die ihnen Vermögen einbringt.
Und was ist mit den Arbeitslosen?
In den letzten vier Jahren habe ich mich erneut in die Begleitung von Arbeitslosen begeben. Ich habe Coachings durchgeführt im Bereich Bewerbung und im Bereich Lebensführung. Ich habe als Dozentin und Coach ALG-I-Empfänger begleitet bei ihrer Suche nach einem neuen Job, ich habe mir Einrichtungen und Projekte angeschaut, die Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit auffangen, um sie (falls überhaupt möglich) zu reintegrieren in den Arbeitsmarkt.
Wo bleibt die Eigenverantwortlichkeit?
Diese Zeit war sehr aufschlussreich für mich, gerade weil ich den Vergleich zu 2004 ziehen kann, als ich Ähnliches tat. Eigenverantwortlichkeit scheint es kaum noch zu geben. Kinder und Jugendliche erkranken immer häufiger psychisch, Langzeitarbeitslose rechnen sich aus, dass sie bei erneuter Arbeitsaufnahme kaum einen finanziellen Anreiz haben, in Vollzeit zu arbeiten.
Immer mehr Menschen erkranken an Burnout und können auf Dauer nicht der Hetze der digitalen Zeit standhalten. Es scheint nur noch um Gewinnmaximierung zu gehen. Wie soll Arbeit da eine erfüllende Lebensaufgabe sein, die man liebt?
Es gibt immer mehr jungen Menschen, die ohne Schulabschluss die Hauptschule verlassen. Menschen, die im gesundheitlichen oder sozialen Bereich berufstätig sind, fürchten zwar mit am wenigsten das Los der Arbeitslosigkeit – doch ihre Jobs sind häufig frustrierend – entweder durch mangelnde Erfolge oder durch völlige Überlastung.
Der Bürger als Alimentierter
Ohne die Einstellung der Eigenverantwortlichkeit wird der Mensch zum Hilfsbedürftigen, der wie ein Kind vom Staat Leistungen erwartet (oder erbettelt). Diese Haltung eines Alimentierten scheint sich mehr und mehr auf ganz Deutschland niedergelassen zu haben. Und was ist heute mit den Arbeitslosen, die in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen?
Bürgergeld wird von Langzeitarbeitslosen häufig als Selbstverständlichkeit empfunden. Tatsächlich ist in den zwanzig Jahren Hartz IV das passiert, was verhindert werden sollte durch dieses menschenverachtende Prinzip „Fördern und Fordern“. Aus stolzen Arbeitswilligen wurden Sozialhilfeempfänger, die entweder wütend auf das wenige Geld und die mangelnden Zusatzleistungen sind (und die auch gern mal dem Jobcenter mit dem Anwalt drohen), oder die bei jedem Brief vom Amt zittern – deren Rückgrat gebrochen wurde.
Angststörungen, ungesunde Lebensführungen, chronische Erkrankungen, psychiatrische Versorgung, Psychopharmaka und andere stoffliche Substitutionen erinnern mich an Ghettos von Ureinwohnern, denen der Stolz und die Selbstwirksamkeit von den Eroberern genommen wurde.
Mein Fazit
Es waren gute vier Jahre, die ich in diesem Bereich gearbeitet habe, doch ich habe einsehen müssen, dass ich nichts gegen diese Entwicklung tun kann – weder im Einzelfall noch im Systemischen. Da ich ein Mensch bin, dem der Sinn meiner Arbeit wichtiger ist als der finanzielle Vorteil, werde ich mich beruflich verändern. Ich weiß zwar noch nicht, wie. Doch dieser bürokratisch aufgeblähte Staatsapparat entspricht nicht meiner Sehnsucht nach finanziell und leistungsorientierter Selbstwirksamkeit des Menschen.
Mal sehen, was mir als Nächstes einfällt. Irgendetwas kommt immer. Vielleicht etwas mit Babyboomern, die noch in den Werten von Fleiß und Unabhängigkeit leben. Das ist ja das Schöne an der Selbstständigkeit – man kann sich immer wieder neu erfinden – auch noch mit 65.