Ntv hat über eine Studie aus den USA berichtet, bei der die Forschenden die Empathiefähigkeit von Self-Made-Reichen verglichen haben mit der Empathiefähigkeit von Menschen, die ihr Vermögen geerbt haben. Für mich waren die Ergebnisse nicht überraschend. Menschen, die durch eigene Kraft nach oben gekommen sind, sind Kämpfer. Und Kämpfer, die für den Aufbau eines materiellen Vermögens Opfer gebracht haben, sind eine ganz besondere Art von Kämpfern. Kurz und gut, zumindest in den USA ist es so, dass Self-Made-Reiche zwar weitaus beliebter sind bei der Bevölkerung als reich Geborene – doch die Annahme, dass sie gegenüber Bedürftigen wohltätiger sind, stimmt nicht.
Sind Selbstständige weniger sozial als Angestellte?
Und so fragte ich mich, wie ich persönlich Selbstständige wahrnehme. 2004 habe ich mich selbstständig gemacht, und tatsächlich bin ich durch diesen Schritt ein anderer Mensch geworden. Mein Umfeld hat sich verändert, mein Freizeitverhalten, meine Beziehung zu meiner Familie, meine Interessen und meine Werte. Das Gefühl, selbst Gestalter meines Lebens zu sein, ist berauschend. Das Gefühl, bei Katastrophen und Niederlagen selbst verantwortlich zu sein, gibt mir Kraft und regt meine Kreativität an. Ich fühle mich nicht ausgeliefert, ich bin in mir zu Hause.
Auch meine Freunde sind selbstständig. Damals ist es fast wie durch Zauberhand in kürzester Zeit passiert. Das lag auch daran, dass ich eine „eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer“ gegründet hatte, also mein Umfeld in Windeseile nur noch aus Self-Made-Kämpfern bestand, doch was mich so faszinierte war, dass ich glücklicher wurde in dieser Parallelwelt, in der man fast nie über Privates sprach. Immer gab es etwas zu tun, zu entscheiden, zu bewältigen. Hindernisse mussten überwunden werden, und oft genug klopfte die Sorge vor dem finanziellen Scheitern an. Alles änderte sich ständig rasend schnell.
Ich kann nicht sagen, dass Selbstständige weniger sozial sind als Angestellte, doch die Eigenverantwortung, die wir leben, überträgt sich auf unsere Mitmenschen. Ich persönlich zum Beispiel liebe es, mit Menschen zu arbeiten, die am unteren Rand der Gesellschaft leben. Doch ich liebe es nicht, weil ich sie „bemuttern“ will oder mir Punkte im Himmel damit verdienen will – ich tue es, weil es spannende Rätsel sind, die wir da gemeinsam lösen! Wir haben Achtung voreinander und wir wissen, was es heißt, nicht zur Masse dazuzugehören.
Selbstständige werden von Angestellten häufig mit Misstrauen betrachtet. Selbstständige können bei Familienfeiern und Partys nerven mit ihrem ständigen „Ok, und was machen wir jetzt mit Deinem Problem?“. Selbstständige müssen zwangsläufig Gestalter ihres Lebens sein, sie haben keine Rechte und keine Sicherheiten – ich bin sicher, auch die Self-Made-Reichen leben in dem Wissen, dass jeden Tag etwas passieren kann, was ihr Vermögen zerstört wie ein Tsunami.
Ich weiß nicht, ob meine Empathie gelitten hat durch dieses Kämpfer-Dasein. Wahrscheinlich nicht, schließlich ist Empathie meine Geschäftsgrundlage. Wäre ich nicht empathisch und menschenliebend, wäre ich schlecht in meinem Beruf. Das wäre das Ende. Aber was sich geändert hat, ist die Spannkraft in jeder meiner Zellen.
Hätte ich ein bedingungsloses Grundeinkommen, würde ich wahrscheinlich bequemer, gemütlicher, nachlässiger. Als Selbstständige ist jede meiner Minuten geplant, Verschwendung von Zeit und Energie empfinde ich als „Sünde“. Freie Zeit ist für mich ein herrlicher Luxus, den ich jubelnd feiere, aber diese freie Zeit ist eine empfindliche Kostbarkeit, keine Selbstverständlichkeit.
Wie ich Self-Made-Reiche erlebe
Natürlich kenne ich auch Selbstständige, deren Motivation davon getrieben ist, möglichst viel Geld zu verdienen. Ich gönne es ihnen von Herzen. Doch es ist nicht meine Welt. Mir ist es gleichgültig, ob jemand im ausschweifenden Luxus lebt oder in einem Wohnwagen. Doch die Geldgräber haben andere Themen als ich, und ihr gieriges Funkeln in den Augen schreckt mich. Sie sind immer auf der Suche nach der Chance, mit ihrem Gegenüber Geld zu verdienen – und ich verabscheue es, in einer solchen Rolle wahrgenommen zu werden. Ob Bettler, Drücker, Finanzberater oder Vertriebler – sobald jemand in mir die Melkkuh sieht, bin ich weg.
Sich selbstständig machen im Jahr 2022?
Wir haben zurzeit einen gigantischen Mangel an guten Arbeitern. Ob ungelernt, ob Fachkraft, ob Führungskraft – alles schreit nach Hilfe. Nie stimmte der Satz „Wer Arbeit sucht, der findet auch welche“ mehr als heute. Wer also sollte sich noch selbstständig machen wollen? Es sind Wenige, das stimmt. Häufig ist der Traum vom Exit der Grund, ein Unternehmen zu gründen. Also der Traum von der frühen Rente im Wohlstand. Ich gönne es ihnen, doch es ist nicht meine Welt.
Ich bin gespannt, welch neue Schicht an Selbstständigen sich gerade entwickelt. Die digitalen Nomaden, die Außenseiter, die Unregierbaren, die Kreativen, die Unruhigen, die Selbstbestimmten… Auf jeden Fall lässt sich gut Geld verdienen. Findet man nicht genügend Angestellte, dann kommen wir. Und wir sind gut.
ntv vom 28. Juni 2022: Self-Made-Aufsteiger sind nicht mitfühlender