Am 16. Januar 2015 war ich im Hagen Rether Konzert. Fast vier Stunden lauschte der voll besetzte Saal den Worten des Künstlers, der uns Theaterbesuchern durchgehend den brutal ehrlichen Spiegel vors Gesicht hielt. Ja, schimpfen auf unsere Mitmenschen – vor allem wenn wir sie als „die von da oben“ kennzeichnen, können wir hervorragend, aber eigenverantwortlich unser eigenes Verhalten ändern? Beim Einkauf? In konsequentem Mitgefühl mit Verzweifelten und Verfolgten? – „Ich bin Charly…“ es ist so leicht, Petititonen zu unterzeichnen – doch auf Konsum von ausbeuterischen, tierquälenden, planetentzerstörenden Lebensmitteln, Freizeitgütern, Reisen zu verzichten, dafür haben wir keinen Grund, da sollen die „da oben“ Gesetze ändern, das liegt nicht in unserer Verantwortung.
Durch die ganzen Stunden zog sich Rethers fast wehmütiger Appell, die Leute „doch einfach mal in Ruhe zu lassen.“ Er erzählte gleich zu Beginn, wie er mal einen Zettel am Auto fand „Voll scheiße geparkt, Du Arsch“. Ein vorgefertigter Post-it – anscheinend angebracht von einem selbst ernannten Blockwart.
Die Zuschauer lachten begeistert, wenn er immer mal wieder auf diesen Zettel zu sprechen kam – doch als um halb zwölf (!) zwei Leute vorzeitig das Konzert verließen und sich durch die Reihe quälten, beschwerten sich hinter mir lautstark einige Frauen „Können die nicht warten, bis es zu Ende ist? Unverschämtheit, so zu stören!“ „Häh??? Erst herzhaft lachen über die Blockwarte, und kurz danach sich genau so verhalten?“
Lasst die Leute doch einfach mal in Ruhe…
…dachte ich dann auch am nächsten Morgen, als ich durch meine Facebook Timeline scrollte. Unverschämtheit hier und Unverschämtheit da, Gemecker über regelwidriges Verhalten hier und Geschimpfe über politisch unkorrekte Haltung da – können wir die Leute nicht einfach mal in Ruhe lassen? Einfach mal bei uns selbst anfangen und aufräumen im eigenen Haus?
Ich selbst habe übrigens überhaupt keine Berechtigung, über andere Menschen zu schimpfen. Ich esse immer noch Fleisch aus Massentierhaltung – skrupelloser und ignoranter kann man kaum sein. Auch kaufe ich lauter existenziell überflüssige Konsumartikel, ohne dass diese aus Fair Trade Handel stammen. Ich trample auf dem Leid unzähliger Menschen und Tiere herum, mit Unterhaltungselektronik, Mode, Beruf- und Freizeitvergnügungen. Ich weiß, dass Verhalten wie das meine diesen Planeten zerstört – ich habe alles Recht am Steine werfen verwirkt.
Lasst die Leute doch einfach mal in Ruhe…
…hat nun nach vier Stunden Dauerbeschallung einen kleinen Platz in meinem Gehirn eingenommen – und ich wünsche mir von Herzen, dass dieser Ohrwurm nie wieder verschwindet. Dann hätte sich die Mission von Hagen Rether ein kleines bisschen gelohnt. Und wenn ich es dann noch irgendwann schaffe, mein bequemes Verhalten zu ändern, vegan zu essen und auf Fair Trade konsequent zu achten, dann wüsste ich, dass Kunst doch etwas bewirken kann. Auf jeden Fall danke Hagen, gib nicht auf, mach weiter.
Hier geht es direkt zur Website von Hagen Rether
Hagen Rether 2007 (!) über den Islam. Unglaublich, wie er damals schon vorhergesehen hat, was sich da entwickelt. Es ist so bedrückend! – 8 Minuten Video
Liebe Eva,
danke für diesen tollen Artikel. Das mit dem Finger auf andere zeigen und Steine werfen ist leider sehr verbreitet. Und wie oft erwische ich mich selbst dabei, andere für irgendetwas verantwortlich zu machen. Ich weiß, dass es an mir liegt, doch häufig vergesse ich es. Umdenken ist schwieriger als ich gedacht habe.
Viele Grüße
Heiner
Danke dass Du das schreibst lieber Heiner, das tröstet mich ein wenig. Anscheinend ist es viel leichter, sein Wunschgewicht zu erreichen, mit dem Rauchen aufzuhören und/ oder regelmäßig Sport zu treiben – als ethisch das eigene Verhalten zu ändern. So ein Mist.
Hammer! Der Mann ist höchstpolitisch! Finde ich klasse! Scharfsinnig! Hab ich Lust drauf..
Hagen Rether ist ja fast jeden Abend unterwegs – ob er auch mal bei Euch in der Gegend ist? http://www.hagenrether.de/seiten/termine.php