Der Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly hat in seinem neuesten Buch „Wie konnte das geschehen“ thematisiert, welche Herrschaftsmethoden die NS-Machthaber angewandt haben, um Millionen Deutsche in gefügige Vollstrecker und abgestumpfte Mitmacher zu verwandeln. In unserem heutigen digitalen Wandel erinnern diese Methoden an vieles, was wir weltweit erleben. Sind wir Menschen wirklich so leicht manipulierbar wie Ratten, die durch Versuchsaufbauten gesteuert werden? Und stimmt es, dass die Ideologie austauschbar ist, wie Götz Aly vermutet ? Rechts, links – Hauptsache extreme Techniken wie bei der sizilianischen Mafia?
T-Online hat am 4. September 2025 ein Interview mit dem Historiker und Buchautoren Götz Aly geführt, das mich – als Kind von Eltern, die im Nationalsozialismus gelebt haben – sehr berührt hat. Auch ich habe mich schon in der Pubertät gefragt „Wie konnte das geschehen?“. Lange dachte ich, dass die damaligen Deutschen durch autoritäre Erziehung und nationalen Größenwahn überwiegend begeisterte Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie waren – doch damit räumt Aly, dessen 768 Seiten starkes Buch am 27. August 2025 erschienen ist, gründlich auf. Propaganda hat viele Möglichkeiten, Menschen zu manipulieren: Aly richtet seinen Blick auf Techniken des Machtgewinns und Machterhalts – und kommt zu dem Schluss, dass diese unabhängig von Ideologien funktionieren…
Götz Aly „Wie konnte das geschehen“ Vorschau mit 86 Seiten bei Google Books
Weiche, harte und sehr harte Mittel der Macht
Die manipulativen Techniken von erfolgreichen Herrschaftssystemen funktionieren ähnlich wie mafiös agierende kriminelle Organisationen. Der Einzelne wird zunächst angesprochen mit Schmeicheleien und Belohnungen. Das nennt man die „weiche Phase“ – oder Phase 1.
Phase 1: Die weiche Phase

Da nach dem verlorenen 1. Weltkrieg und den brutalen Reparationsforderungen die Deutschen verstört, traumatisiert, verelendet und verängstigt waren, lockte man sie federleicht mit Sicherheiten (finanzieller und beruflicher Aart), mit Anerkennung und mit sozialen Aufstiegschancen.
Am Schnellsten funktioniert in der Regel Geld, nachhaltiger ist jedoch die Einbindung ins System über Anerkennung und sozialen Aufstieg.
Was das nationalsozialistische Machtnetzwerk, das bekannterweise weit über Deutschland hinaus zusammenarbeitete, besonders gut konnte: Lockmittel, Medienpropaganda, Kinder- und Jugend-Pädagogik in Kindergärten, Schulen, Universitäten und Freizeitvereinen sowie die Infrastruktur aus Exekutive, Judikative, Presse, Gesundheitswesen und Finanzsystem zu willigen Mittätern umzuformen – und das schon in den entscheidenden ersten 100 Tagen der Regierungsübernahme.
Dass man durch die Ausschüttungen an das Volk enorme Schulden anhäufte, störte die Nationalsozialisten in dieser entscheidenden ersten Phase nicht weiter – nach dem Motto: Darum kümmern wir uns später … Wichtig war zunächst, über alle Menschen im Staat weitgehende Kontrolle zu haben.
Phase 2: Die harte Phase ab 1941
Die Deutschen hatten auch im Jahr 1938 weiterhin panische Angst vor einem erneuten Krieg. Nun bestand die Manipulations-Kunst darin, sie trotz Alledem zu willigen Soldaten, Bürgern, skrupellosen Menschheitsverbrechern und stillschweigenden Mitwissenden zu erziehen. Wie geht das?
Wie in jedem kriminellen machtorientiertem System heißt es: „Mitgefangen, mitgehangen“. Schaute man anfangs noch weg, wenn Oppositionelle, Juden und „Unwert Lebende“ ausgesondert, misshandelt oder getötet werden wie im nationalsozialistischen Euthanasie Programm, dass schon ab 1935 im Rahmen des „Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit“ in Medien und Bildungsapparaten propagiert wurde, wurde die Schlinge der Mitschuld immer weiter zugezogen in der hämmernde Verkündigung, dass das gesamte deutsche Volk hinter den harten, aber notwendigen Maßnahmen der „nationalsozialistischen Wertegemeinschaft“ stände. Aus den gehorsamen Bürgern, die sich an Beruf, ansteigendem Wohlstand mit Urlaub und Kindergeld sowie einer Krankenversicherung für Rentner erfreuten, wurden nun Mittäter. Ob aus dem Volksempfänger, ob in der Schule, ob bei der Hitlerjugend oder im Kino – überall erschallte Joseph Goebbels Maschinerie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
Fast alle Kulturschaffenden machten damals mit – am leichtesten sind nun mal die zu Mittätern zu machen, die direkt vom Staat finanziert werden. „Nur nicht langweilig werden“ lautete die Entertainment-Losung von Joseph Goebbels. Kinofilme, Schlagermusik, Sportveranstaltungen, Theateraufführungen und schriftliche Erzeugnisse – von den Pressemedien bis zur fiktionalen und wissenschaftlichen Literatur – waren darauf ausgerichtet, das Volk über Emotionen und Glauben zu formen. In dieser 2. Phase kam zu Anerkennung, Lustvertreib, Massenhysterie (wie heute beim Fußball) und Belohnung noch etwas Gegensätzliches hinzu: die hämmernde Verkündung der Mitwisserschaft und Mitschuld.
Das war extrem wichtig, da die Schuldenberge des Landes im Jahr 1941 dermaßen angewachsen waren, dass man nur noch über eine Ausweitung des Krieges und über die Erbeutung fremden Eigentums aus der Verschuldung herausfinden konnte. Die Lebensmittelvorräte für Militär und Heimatfront gingen langsam zur Neige, Eile war geboten.
Die bisherigen Siege über Polen, Norwegen, Frankreich, Belgien und die Niederlande hatten keine finanzielle Verbesserung gebracht – der Raub- und Vernichtungskrieg gegen Russland sollte nun die Kehrtwende bringen. „Sieg oder Untergang“ wurde als Botschaft mehr und mehr ins Volk gestreut – immer ideologisch aufgepimpt mit dem „Kampf gegen jüdischen Bolschewismus“.
Phase 3: Die harte Härte „Sieg oder Untergang“
Als im Frühjahr 1942 die ersten deutschen Städte schwere Bombardierungen erlebten, begann die Propaganda-Strategie, dem Volk klar zu machen, was ihnen im Falle einer Niederlage drohen würde. Die „Kraft-durch-Furcht“ Propaganda startete und zog sich immer weiter durch. Goebbels erfand sozusagen die Kollektivschuld der Deutschen, um diese gefügig zu halten.
Schon die Progromnacht vom 9. Auf den 10. November 1938 wurde genutzt, um der Bevölkerung einzuhämmern, sie alle hätten gemeinsam die unzähligen Verbrechen an ihren jüdischen Nachbarn, Ärzten, Händlern und Handwerkern begangen – auch wenn die Täter fast ausschlließlich aus Partei-Aktivisten bestanden, während das Volk verängstigt – oder zumindest eingeschüchtert zuschaute.
Die gelben Judensterne waren ein perfektes Propagandainstrument, um der Botschaft der Mittäterschaft weitere schrille Anklagebeweise hinzuzufügen. Ganz Deutschland bestand aus Mittätern und Mitverantwortlichen. Wer traute sich noch, einem Juden auch nur „Guten Tag“ zu sagen? Ihn auch nur kurz anzuschauen? Geschweige denn, ihm zu helfen, wenn er Hilfe dringend benötigte?
Die panische Angst vor einer unfassbar grausamen Rache der Opfer im Falle einer Niederlage brachte die deutsche Bevölkerung dazu, im Jahr 1943, als eigentlich schon abzusehen war, dass der Krieg verloren ist, dem unfassbaren Aufruf von Joseph Goebbels zu folgen „Wollt Ihr den totalen Krieg?“, ohne sich aufzubäumen. Da war keine Begeisterung – da war die nackte Angst, die jeden Widerstand verunmöglichte. Nun zu desertieren, nun die halbwüchsigen Schuljungen zu verstecken, damit sie nicht an die Front geschickt wurden, war kaum noch möglich. Alle waren wie gelähmt im Angesicht ihrer Schuld und der mörderischen Rache, die ihnen im Falle der Niederlage bevorstand
Dass es ganz anders kam und nur sehr begrenzt Rache von den einmarschierenden Truppen ausgeübt wurde , ist dann noch mal eine ganz andere Geschichte…
Was wir daraus lernen können
Auch wenn wir heute (bisher) nicht in einer so verzweifelten Situation sind wie die Deutschen Anfang der Dreißiger Jahre – allein der Fall Epstein zeigt, wie verführbar und im nächsten Schritt erpressbar wie Menschen an und für sich sind. Ich selbst habe zwischen 2020 und 2022 an eigenen Liebe gespürt, dass ich nicht zum Widerstandskämpfer tauge.
Die wenigen Künstler und Intellektuellen, die sich gegen die unmenschlichen Maßnahmen wie die Isolation sterbender Menschen in Altenheimen und Isolation von Kindern gewandt haben, kann man fast an einer Hand abzählen. Der Preis für Widerstand war der Ausschluss, Bann bishin zu Arbeitslosigkeit, Vertreinung aus Deutschland, Sozialhilfe. Allein das war schon ein zu hoher Preis.
Ich selbst habe mich brav impfen lassen, um weiterarbeiten zu können und habe meine ungeimpften Klienten getröstet. Das war alles, was ich tat. Nein, auch ich hätte zwischen 1933 und 1945 zur schweigenden Mehrheit gehört wie meine Oma, die sich mit Decke über dem Kopf Radio London anhörte. Schade eigentlich – ich wäre gerne Heldgewesen – aber heute weiß ich: ich bin keiner.
t-online vom 04.09.2025:
Zweiter Weltkrieg und Holocaust „Hitler war völlig ratlos“ – Interview mit dem Historiker Historiker Götz Aly




