Rudi Assauer (67) outet sich mit Alzheimer: Doch was ist Alzheimer?

Anfang Februar 2012 hat sich Rudi Assauer öffentlich zu einer Krankheit bekannt, die wohl eine der gefürchtetsten überhaupt ist in den Industrieländern: Alzheimer. Als Unterform der „Demenz“ – also aller Erkrankungen, die mit Einschränkungen von Denken, Erinnern, logischen Denkverknüpfungen einhergehen, ist Alzheimer am häufigsten: Rund 60% aller Demenz-Erkrankungen wird durch diese Störungen des Gleichgewichts des Botenstoffs Glutamat in Nervenzellen hervorgerufen. Je älter wir werden, desto häufiger müssen wir mit Alzheimer leben, doch was bedeutet das für Betroffene und Angehörige?

Rudi Assauer beschreibt seine Hilflosigkeit sehr eindrücklich in dem 5-Minuten Beitrag, den das ZDF veröffentlicht hat, nachdem ein Reporter-Team ihn ein Jahr lang nach der Diagnose Alzheimer begleitet hat. (Video am Ende des Beitrags). Man sieht, dass auch geistige Aktivität und jugendliche Lebensweise nicht dafür schützt – Alzheimer kann jeden treffen, und eine grundlegende Behandlung ist auch dann nicht möglich, wenn man prominent und wohlhabend ist.

Doch wenn Schutz und Therapie nicht trösten, wie soll man dann mit dieser Gefahr alt werden, ohne zu verzweifeln? Inge Meysel hatte immer eine Giftkapsel dabei, um ihren Tod selbst zu bestimmen – und doch fand sie nach ihrer Erkrankung an Demenz nie den richtigen Zeitpunkt und fügte sich ihrem Schicksal, und auch andere Prominente lernten, mit der wachsenden Hilflosigkeit zu leben, wie Ronald Reagan und Bubi Scholz.

Was ist Alzheimer? Ein Erlebnisbericht…

Ich selbst habe einmal das große Glück gehabt, ein Jahr lang eine Alzheimer Patientin begleiten zu dürfen, Tag für Tag, von morgens bis abends. Dabei habe ich meine Angst vor Alzheimer verloren. Wenn es kommt, dann kommt es eben.

Frau B. hat Alzheimer…

Frau B. war es immer gewohnt gewesen, zu bestimmen und zu entscheiden. Sie war Abteilungsleiterin in einem Textilkaufhaus gewesen und als berufstätige Frau, die kurz nach 1900 geboren wurde, äußerst emanzipiert.

Es war nicht leicht mit der fast 90-Jährigen, das gebe ich zu. Sie war herrisch, ungeduldig, unnachgiebig, wusste genau, was sie will. Auf der anderen Seite war sie großzügig, klug, eine großartiger Analyst und Stratege. Jeden Tag gingen wir in die Stadt, und jedes Mal war es für sie eine erneute Überraschung, dass sie auf Sylt (sie fühlte sich immer im Urlaub) die Kulisse ihrer Heimatstadt im Ruhrgebiet nachgebaut hatten. Da es nicht möglich war, sie davon zu überzeugen, dass wir tatsächlich im Ruhrgebiet waren („Erzählen Sie mir doch keinen Blödsinn, ich weiß doch, wo ich bin!“) staunte ich mit ihr gemeinsam über die perfekte Inszenierung.

Wir waren überall bekannt in Witten (da waren wir nämlich wirklich). Jeden Morgen erwachte Frau B. mit der Diagnose, dass etwas mit ihren Augen nicht in Ordnung war (Grauer Star) und wollte zum Augenarzt. Also gingen wir mindestens einmal in der Woche in eine Praxis, und machten die Augenärzte verrückt. Sie war nämlich ganz schön anspruchsvoll und wollte sich mit den stundenlangen Wartezeiten nicht so einfach abfinden. Als einmal eine Augenärztin an der Rezeption länger telefonierte, herrschte Frau B. sie an: „Ach für Ihre Privatgespräche haben Sie Zeit, aber mich lassen Sie hier stundenlang warten“.

Sie war auch sehr schlau. Im Wartezimmer erkannte einmal eine alte Kundin Frau B. und erzählte ihr ausführlich, wie furchtbar ihr Leben geworden war, seitdem ihr Mann gestorben war. Frau B. hörte geduldig zu, nickte an den richtigen Stellen und kommentierte so intelligent, dass die geplagte Witwe überhaupt nicht merkte, dass Frau B. keine Ahnung hatte, wer sie war und was sie wirklich wollte. Als wir endlich aufgerufen wurden, stand sie würdevoll auf und verabschiedete sich bei der verblüfften Frau: „Und grüßen Sie Ihren Mann schön von mir“.

Auch zum Zahnarzt ging sie gern, obwohl sie fast keine Zähne mehr hatte (jeder Morgen war wie mich wie Ostern: Gebiss und Portemonnaie suchen). Einmal beugte sich der Arzt kopfschüttelnd über ihre Zähne und murmelte: „Nun, da ist ja nicht mehr viel, da kann man wohl nichts mehr machen“. Frau B., fast neunzig,  schob seine Hand ungehalten weg, erhob sich und stellte deutlich fest: „Nun, wenn meine Zähne nichts mehr taugen, dann sind Sie eben ein schlechter Zahnarzt!“

Einmal fragte ich sie, wie sie es schafft, aus jedem Wort-Gefecht als Sieger hervorzugehen. Sie antwortete: „Eins müssen Sie sich merken – wenn Sie nicht mehr weiter wissen, einfach lachen. Das wirkt immer“. Und diese Taktik wandte sie tatsächlich laufend an und brachte vor allem Ärzte damit zur Raserei. Ja, wir hatten viel Spaß.

Dass sie Alzheimer hatte, wusste sie nicht. Außer mir ließ sie keine „Fremden“ an sich heran. Kam einmal ein anderer Pfleger, lief sie zum Fenster und schrie um Hilfe. Und auch ich musste Morgen für Morgen vor ihrer Tür geduldig erklären, wer ich war und warum ich käme und dass alles so in Ordnung sei. Sie lebte bei ihrem Sohn (der mit wirklich leid tat) und ich kam, während er arbeitete.

Wenn sie nieste und ich „Gesundheit“ sagte, fragte sie „Warum Gesundheit?“ weil sie ihr Niesen schon wieder vergessen hatte. Wenn sie die Balkontür öffnete, kam sie zurück und herrschte mich an, warum ich das getan hätte und ob wir für draußen heizen würden. Ich lernte sehr schnell, dass Widerspruch nie richtig war, sondern nur Hingabe und Nachgiebigkeit zum Erfolg führten. Erfolg hieß: harmonisch und friedlich durch den Tag kommen.

Für Angehörige ist so ein Schicksal natürlich viel schwerer als für mich, die ich abends nach Hause gehen konnte und emotional nicht verflochten war. Ich hatte keinen Stolz zu verteidigen, wenn sie mich zu Unrecht beschuldigte, und ich fand es amüsant, im Wittener Cafe für verrückt gehalten zu werden, weil Frau B. die Bedienung fragte, ob sie nicht sonst auch in Witten arbeite und ich ganz unschuldig dazu guckte, ohne einzugreifen.

Ich mochte Frau B. von Herzen gern, weil ich ihren Charakter mochte, weil sie so eine kampfeslustige Frau war, deren Willen und Selbstbewusstsein gerade mit Alzheimer besonders rein hervorkamen. Ich war glücklich, weil sie mich akzeptierte und mir kleine Zeichen von Sympathie gab, – weil sie viele kluge Gedanken aussprach und mir zeigte, wie unwichtig die Meinung anderer Leute ist.

Als ich sie verlassen musste, passierte noch ein kleines Wunder, das ich in meinem Herzen bewahrt habe. Frau B. die sich die ganzen Monate lang keine 5 Minuten an mich erinnern konnte und nur elegant ihre Unsicherheit Tag für Tag überspielte, hatte plötzlich einen glasklaren Moment beim Abschied. Als ich ihr erklärte, dass ich nun gehe und nicht mehr komme, schaute sie mich durchdringend an und sagte: „Ich werde Ihre leckeren Apfelpfannkuchen vermissen“.

http://youtu.be/PQ3unw74w1s

 

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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4 thoughts on “Rudi Assauer (67) outet sich mit Alzheimer: Doch was ist Alzheimer?

  • Reply thomashaagen 5. Februar 2012 at 15:57

    Toller Bericht :: Respekt! Was mir sofort auffiel, war deine Meinung zur alles überstrahlenden Aufrichtigkeit, die viele Situationen erträglicher machten. Mir ist es schon eine Freude, gesunden Menschen zu begegnen, die aufrichtig sind. MMn das wichtigste im Leben!

  • Reply Eva Ihnenfeldt 5. Februar 2012 at 17:44

    Ja, vielleicht hast Du Recht. Vielleicht habe ich meine Angst verloren, weil Frau B. mich Aufrichtigkeit gelehrt hat – sie war und blieb ein aufrichtig starker Mensch, so werde ich auch bleiben – das schaff ich 🙂 Danke lieber Thomas!

  • Reply Sylvia Brinkmeier 7. Februar 2012 at 19:05

    Vielen Dank für den liebevollen Bericht. Das Einzige, was einem Menschen mit dieser Diagnose wirklich hilft, sind einfühlsame Menschen um ihn herum.

    Für Rudi Assauer war es die beste Entscheidung, sich „zu outen“, so entgeht er der Gefahr, von unseriösen Journalisten „enttarnt“ und als Schlagzeile missbraucht zu werden.

  • Reply Siegfried Brzoska 8. Februar 2012 at 18:06

    Hallo Eva, lieben Dank für (d)einen persönlichen Erlebnisbericht zum Thema Alzheimer. Eine erste „altenative Sicht“ auf Alzheimer habe ich durch das Hörbuch „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger erhalten. Arno Geiger erzählt hier über die Erlebnisse mit seinem Vater und kommt zu ähnlichen kuriosen Erkenntnisgewinnen wie du sie in deinem Blog-Beitrag beschrieben hast. Die gestrige Sendung im ZDF „37 Grad“ über ein Jahr mit Rudi Assauer war sehenswert.

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