Von nun an geht’s bergab. Deutschland und die EU verlieren an Einfluss und Wohlstand. Die Welt ordnet sich neu. Das alte Prinzip „Liberalität ist zentral geführten, autoritären Herrschaftsformen überlegen“ ist passe. In digitalen Zeiten, in denen die technische Fragilität keine Zeit zum Durchatmen lässt, sind demokratische, national individuell gestaltete Meinungsfindungsprozesse anscheinend ein Relikt aus analogen Zeiten. So wie wirtschaftliche Macht sich weiter zentralisiert, wird auch der politische Rahmen globaler, einheitlicher, von den Bürgern unbeeinflussbarer.
So weit, so gut
Mag sein, dass sich doch ein Weg ergibt, der mit Demokratie, Selbstbestimmung, Debattenkultur, Weisheit und sozialem Gewissen Inseln der Freiheit bildet. Zumindest im regionalen Bereich ist das für mich durchaus vorstellbar. Doch was den Wohlstand, den politischen Einfluss und die sozialen Sicherungssysteme betrifft, wird es für Europa womöglich einen Abstieg in die zweite Liga geben. So weit, so gut.
Was dann?
Kann Deutschland seine Position als Exportweltmeister halten? Ist es möglich, die Staatsschulden und Überschuldung der EU zu verwalten, ohne nationale Eingriffe im Sozialsystem vorzunehmen? Können sich im Kampf um Energieressourcen deutsche Sonderwege in der EU ergeben? Wohl kaum. Es ist, wie es ist, nun zeigt sich, wie jede Mentalität, jede Kultur ihre eigene Strategie bei dieser Krise entwickelt.
Lernen aus der Finanzkrise
So wie bei der Bankenkrise seit 2009 Südeuropa und Irland ihre eigenen Wege in der EU gefunden haben, so wird auch Deutschland seinen eigenen Weg finden. Auch wenn nationale Grenzen an Eigenständigkeit verloren haben, sind Kultur, Wertesysteme, Identifikation und Vitalität der Menschen in den einzelnen Ländern von ungeheurer Bedeutung.
Es ist ganz spannend, sich Dokumentationen zu Spanien, Portugal, Griechenland und Irland anzuschauen, die deren Weg durch die Bankenkrise seit 2009 aufzeigen. Ich persönlich mag die Spanier gern, die eine beeindruckende Gegenkultur der arbeitslosen, verarmten jungen Menschen vorweisen konnten. Das erinnert mich an meine Jugend mit Hausbesetzungen, alternativen Wirtschaftsbetrieben, Kunst und politischem Aktivismus. Aber wird so etwas heute in Deutschland geschehen? Ich bin unsicher.
Ich vermute, dass uns Deutschen die Bürokratie retten wird. Wir waren und sind ein Volk der Beamten – auch Goethe war Beamter. Wir mögen Rechtschaffenheit und Ordnung, Verlässlichkeit und eine Obrigkeit, die sich als Diener des Volkes versteht.
Was nun wird unsere Bürokratie auf den Weg bringen, wenn die Ärmsten immer ärmer werden, die psychisch Belasteten immer belasteter, die Arbeitslosen immer mehr und die Mittelschicht immer kleiner? Wenn die mittelständischen Betriebe schrumpfen, Altersabsicherung und Arbeitsplatzsicherheit immer unsicherer werden?
Niemand kann das wissen. Doch ich persönlich werde versuchen, mit denen zusammenzuarbeiten, die in den Gemeindeverwaltungen ihr Bestes geben, um denen zu helfen, die am meisten betroffen sein werden von Verelendung. Ich habe gelernt, dass die Mitarbeiter in diesen Sozial- und Gemeindeverwaltungen erstaunlich viel Menschlichkeit und Freundlichkeit in ihre Arbeit bringen – vielleicht vergleichbar mit dem, was man als Patient in vielen Krankenhäusern erlebt. In der Flüchtlingskrise seit 2015 hat sich dieser „urdeutsche“ Geist besonders deutlich gezeigt und bewiesen. Ich vertraue darauf als Anker in widrigen Zeiten, die auf uns zukommen.
Was ich mir wünsche, ist ein sozialer Verwaltungsapparat, der sich um die Hilfsbedürftigen aller Schichten und Lebenslagen kümmert, mit dem Ziel, dass es ihnen gutgehen möge. Ich wünsche mir Peer-Qualifizierungen für gestärkte Betroffene, die sich kümmern wollen um die, die nicht allein zurechtkommen. Ich wünsche mir, dass jede/r Sozialhilfeempfänger/in spürt, dass er oder sie wichtig ist für unser Wohlergehen – dass niemand wie ein Bettler leben muss. Ich wünsche mir, dass diejenigen, die sich für ihre Familien in Vollzeit einsetzen, den Status der „Sozialhilfeempfänger“ verlieren, Wertschätzung und soziale Sicherheit von der Gesellschaft erfahren.
Ich wünsche mir, dass Jede/r eine Aufgabe für die Gemeinschaft übernehmen kann, und sei sie noch so klein. Selbstwert und Selbstliebe entstehen dadurch, dass man stolz auf sich ist. Und stolz auf sich ist man dann, wenn man ein sinnvolles Leben führt. Auch die, die durch Angst und Phobie an ihre eigenen vier Wände gefesselt sind, können dank Computertechnik und Remote-Arbeit Nützliches vollbringen. Auch Rentner/Innen, die nicht familiär im Einsatz sind, können für die Gemeinschaft etwas leisten. Und die Idee eines Gesellschaftsjahres für jugendliche Schulabgänger finde ich großartig.
Ich wünsche mir Bürgerzentren, in denen parteilos politisch gearbeitet wird an gemeinsamen Lösungen für die Gemeinde bzw. die Region. Ich wünsche mir ein Verantwortungsgefühl, das zu unserer deutschen Mentalität passt und das vom Versorgungsdenken zum sozialen Miteinanderdenken wird.
In der Flüchtlingskrise haben wir gezeigt, dass unsere „Beamtenmentalität“ Großartiges hervorbringen kann. Ich wünsche mir, dass diese Haltung nun in der Krise weiter an Raum und kreativer Ausgestaltung gewinnt. Jede/r ist wichtig, Jede/r wird gebraucht. Daran will ich mitwirken durch eine Akademie, in der Betroffene zu ihrer Aufgabe finden. Das ist meine Vision. Vielleicht werde ich das irgendwann bereuen, weil alles Gute irgendwann kippt. Doch erst einmal lohnt sich der Anfang – dann wird man weitersehen.