Jesus ist auf Erden! Hurra! Er hat sein Versprechen wahr gemacht – er ist wieder da! Als Kleinkind unendlich verständnis- und rücksichtsvoll, in der Schule der umschwärmte Mittelpunkt seiner Klassengefährten, später als Grundschullehrer jemand, der in seinen Klassen Geborgenheit und Freiheit verbreitete, Schulklassen, in denen Arm und Reich friedlich gemeinsam lernten, lehrten und wirkten.
Jesus hatte sich fest vorgenommen, diesmal unerkannt zu bleiben und nicht erneut den Fehler zu machen, die Welt durch seine Botschaft ins Unglück zu stürzen mit Glaubenskriegen, Ausbeutung, Unterdrückung und jeglichem Missbrauch von Moral für Machtinteressen. Er wollte es ganz einfach genießen, ein Mensch zu sein, mit all den Herausforderungen des Dualen, mit all den Abenteuern, die es auf der Erde gibt zwischen Licht und Finsternis, Freud und Leid, Liebe und Angst.
Alle Jahre wieder – Weihnachten
Natürlich wusste er, dass die Brauchtümer zu Weihnachten wenig zu tun haben mit spiritueller Lehre und seiner Botschaft der bedingungslosen Nächstenliebe. Sie waren ein Mischmasch aus belehrender Volkserziehung durch die Kirche, Patriotismus unterm Tannenbaum, aus dem Bedürfnis, Armut und Elend zu romantisieren. Vor allem sollte das Weihnachtsmärchen die Menschen daran erinnern, wie schuldhaft und sündig sie waren – wie verloren ohne das Erlösungswerk des Gekreuzigten.
Jesus war inzwischen Rentner. Er lebte allein in einer gemütlichen, etwas verwohnten Mietwohnung, genoss die Stille, empfing gern Besuch, lebte mit seinen Zipperlein und bereitete sich auf den nahenden Tod vor durch Übungen der Kontemplation.
Doch dieses Weihnachten! Je älter und klapperiger er wurde, desto mehr fing Weihnachten an, ihn zu ärgern wie eine Fliege, die sich immer wieder aufs Gesicht setzen will. Er, der Sanftmütige, der Friedfertige, verlor mit beginnender Demenz nach und nach seine Contenance, seine Selbstbeherrschung, seine angemessene Haltung im Angesicht der Weihnachtstraditionen.
Er begann, darüber zu schimpfen, wie heuchlerisch es sei, Schuldgefühle auf so kitschige Weise zu kompensieren, anstatt sich von dieser uralten Unterdrückungsmethode zu befreien. Schuld, Schuld, Schuld – während das arme, nackte Jesulein angehimmelt wird, verbannen die Menschen ihr eigenes armes, kleines Kind in die tiefste Ecke des Unterbewusstseins und werden depressiv!
„Raus mit der Schuld und dem Versagen – versöhnt Euch mit dem, was Ihr an Euch verurteilt“ schimpfte er beim Bäcker, wenn er mal wieder die vielen traurigen, leeren Augen und gebückten Rücken sah. Er fing an, auf der Straße Reden zu halten über die Geschicktheit der Inszenierungen, mit denen das Volk erzogen wurde. Schuld und Versagen als die beiden Schräubchen, mit denen man schon kleine Kinder auf Spur bringt.
Das, was in früheren Zeiten durch Höllendrohungen funktionierte, funktioniert heute durch den Zwang zur Selbstoptimierung. Auch wenn Weihnachten nur noch eine Familien-Tradition ist, zeigt diese, wie fremdbestimmt und gehorsam die Menschen sind. Wenn sie übers Stöckchen springen sollen, springen sie!
Irgendwann bastelte er sich sogar ein Schild und zog auch im Sommer durch die Fußgängerzonen mit seinem Rollator und seiner Botschaft „Versöhne Dich JETZT mit Deinem Bösen!“ Die Menschen lächelten, wenn sie ihn sahen, und einige begannen tatsächlich, zu erforschen, ob es Möglichkeiten gibt, sich von diesen quälenden Schuld- und Versagensgefühlen zu befreien. Und siehe da: Es gibt sie!
Im ganzen Land gründeten sich Selbsthilfegruppen, die das „Böse“ und „Minderwertige“ in sich erforschten, über die verschiedensten Methoden lernten, das Verdammte anzunehmen und die sich befreiten von Moral und Erfolgszwang.
Ok, diese Jesus-Inkarnation wurde zwar nie berühmt, und ok, auch diese Botschaft wurde im Laufe der Jahre instrumentalisiert und in Volkserziehung umgewandelt, aber immerhin! Es war ein Anfang. Jesus brach irgendwann im hohen Alter mitten in der Fußgängerzone mit seinem Schild zusammen. Er starb mit dem zufriedenen Lächeln eines Mannes, der wusste „Ich habe es immerhin versucht…“
Jesus macht Schluss mit Weihnachten
Hallo Eva,
Danke für Deine kleine Weihnachtsgeschichte!
Mir stellt sich dabei nur eine Frage (zumindest zuerst):
findest Du Moral falsch?