Was meinen Sie: Sollte man immer die Wahrheit sagen?

Vor einigen Jahren hatte ich das große Glück, beim Debattierclub in Dortmund mitmachen zu dürfen. Jeden Dienstag abend trafen wir uns, zogen aus einem Korb Themen und Positionen – und genau diese Position mussten wir jeweils zu Dritt in Debatten vor dem zuhörenden „Parlament“ verteidigen. Dabei habe ich vor Allem eins gelernt: Ich habe gar keine Meinung! Ich bin wechselhaft wie das Wetter im April, und das stets mit Leidenschaft und Enthusiasmus.

Wahrheit und GerechtigkeitFür die Burka – gegen die Burka; für Drogenfreiheit ab Babyalter – gegen sämtliche Rauschzustände in der kompletten Gesellschaft; für ein strenges Urheberrecht – gegen die Privatisierung geistigen Eigentums…

Je nachdem, welches Los mich traf, konnte ich innerhalb weniger Minuten im Kreis meiner „Partei“ genügend Fakten finden, die unsere Position untermauerten, und nach meiner leidenschaftlichen Rede hätte ich mich wahrscheinlich sogar geprügelt für meine neu gewonnene Überzeugung!

Was ist eigentlich „Wahrheit“?

Spätestens seit dieser Zeit, in der ich übrigens auch wertvolle Rhetorikschulungen von den erfahrenen Debattier-Studenten erhielt (danke nochmals für Eure Geduld mit mir „alter Frau“) bin ich gegenüber „Wahrheiten“ sehr misstrauisch geworden. „Wahrheiten“ gehören in die Politik und sind dazu da, Verhandlungsgrundlagen zu bieten für Interessen und Ziele.

Auch ich als Unternehmerin bin tagtäglich dabei, in Verhandlungen WinWin-Situationen zu kreieren mit Partnern, Lieferanten, Kunden, Mitbewerben und Stakeholdern, auch ich muss stets darauf achten, durch Verlässlichkeit, Loyalität, Zugewandheit, Respekt, Durchsetzungsvermögen und Entscheidungsfähigkeit meine Ziele und Interessen beharrlich zu verfolgen. Unternehmertum ist Handel und Politik.

Doch Wahrheit? Es gibt sehr wenige Punkte, bei denen ich eine wirklich unverrückbare Position vertrete, für die ich auch persönliche oder geschäftliche Nachteile in Kauf nehmen würde. Ganz oben steht bei mir die Überzeugung, dass alle Menschen gleich viel wert sind, egal welcher Religion, Nationalität, welchem Geschlecht sie angehören – und auch ob sie Kind oder Greis sind.

Als ich mich selbstständig gemacht habe 2004, war ich noch ein Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich regte mich unglaublich darüber auf, wenn ich finanziell über den Tisch gezogen wurde oder wenn man versuchte, mich „auszunutzen“. Heute erkenne ich an einem solchen Verhalten den Anfänger. Nach und nach musste ich lernen, dass Empörung über „Ungerechtigkeiten“ kindisch sind – und geschäftlich Schaden zufügen.

Es geht im Business um mentale Verhandlungspositionen, nicht um Moral. Wir haben es als eigenverantwortliche Selbstständige nicht mit „Eltern“ zu tun, die unserem Wohl verpflichtet sind, sondern mit Handelspartnern, die mit uns Ziele verwirklichen wollen. Da wird gemessen, beobachtet, recherchiert, ausprobiert, zwischen den Zeilen gelesen, analysiert und agiert. Wie im Sport entscheidet sich das Ergebnis an den Fähigkeiten und Ressourcen der Teilnehmer – und genau das liebe ich an diesem Leben.

Sollte man Geschäftspartnern die „Wahrheit“ sagen?

Permanent treffe ich Urteile, sie sind mein Navigationssystem durchs Leben. Doch diese Urteile und gefühlsbedingten/ errechneten Entscheidungen sind keine Wahrheit, sondern Ergebnisse meiner subjektiven Rechenoperationen. Da spielen unangenehme Erfahrungen rein, frühkindliche Prägungen, Wünsche und Abneigungen. Würde jemand meine Gedanken laut übertragen, wäre es bestenfalls peinlich – schlimmstenfalls mein gesellschaftliches Aus.

Wenn ich bei Gesprächen und Verhandlungen all diese „Wahrheiten“ aussprechen würde, würde ich permanent Gefühle verletzen und Türen zuschlagen. Wie oft habe ich schon festgestellt, dass ein Urteil von mir auf falschen Annahmen beruhte? Wie oft schon sind mir Menschen, denen ich zunächst tief misstraute, zu Freunden geworden – und Geschäftspartner, mit denen ich jahrelang hervorragend zusammenarbeitete, zu Fremden?

Nach zehn Jahren Selbstständigkeit weiß ich, dass Höflichkeit, Respekt und Zurücknahme der eigenen Meinung die besten Begleiter sind, um nachhaltig erfolgreich unternehmerisch tätig zu sein. Die vielzitierte Disziplin der Selbstständigen bezieht sich nicht nur auf Zeitmanagement, Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit – sondern auch darauf, die eigene „Wahrheit“ nicht zu ernst zu nehmen-  die eigenen Gedanken und Gefühle zu behandeln wie ein etwas neurotisches Haustier.

Übrigens: Auch privat bin ich sehr vorsichtig mit der „Wahrheit“ geworden. Als Mutter habe ich leider die Macht, meine vier Kinder mit unbedachten Worten und Anspielungen tief verletzen zu können. Und rückblickend habe ich mit meinen „Wahrheiten“ eigentlich nie recht. Es gibt immer unzählige Sichtweisen, und keine kann Anspruch auf Absolutheit erheben – sonst wird sie zur Religion.

Mein Tipp: Gefühle, Gedanken, Worte und Taten so gut wie möglich deckungsgleich zusammenbringen – dann braucht man sich mit diesen vielen angeblichen „Wahrheiten“ nicht herumzuplagen. 😉

Bildquelle: Morguefile – southernfried

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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2 thoughts on “Was meinen Sie: Sollte man immer die Wahrheit sagen?

  • Reply Angelika 3. März 2015 at 09:39

    Liebe Eva, Danke für diesen Artikel! Du hast meiner Meinung nach „den Nagel absolut auf den Kopf getroffen“.

    • Reply Eva Ihnenfeldt 4. März 2015 at 20:49

      Hi liebe Angelika, danke dass Du das schreibst. Das tut mir immer gut, wenn ich so ein persönliches Thema anspreche – man weiß ja nie, wie es aufgenommen wird…

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