Sind wir Menschen auf dem Weg zum postmodernen Nomaden, der sowohl beruflich als auch privat Sicherheit, Ordnung, Tradition und vorgegebene Werte durch Freiheit und Selbstbestimmung ersetzt – ob er will oder nicht? Spiegeln die digitalen Datenautobahnen, durch die wir uns bewegen, wider, was es bedeutet, in der postmodernen Leistungsgesellschaft zu existieren? Unser Kopf reist auf Laptop und Smartphone in rasender Geschwindigkeit durch Text-, Bild- Video- und Audiodaten. Gab es früher feste Arbeitsplätze für alle, die am Schreibtisch tätig sind, hat es sich heute eingebürgert, auch im Homeoffice arbeiten zu können und im Unternehmen nur noch einen „Shared Desk“ zu nutzen für die Zeit, die man dort anwesend ist. So spart das Unternehmen Bürofläche und setzt darauf, dass die Mitarbeiter durch das Prinzip der bestmöglichen Effizienz auch bestmögliche Ergebnisse erzielen.
Shared Desk
Viele Unternehmen in Deutschland haben in letzter Zeit ihre Arbeitsplätze auf Shared Desks umgestellt. Durch die Corona-Jahre ist die Selbstverständlichkeit von Homeoffice so gestiegen, dass in vielen Unternehmen die Hälfte bis zu drei Viertel der Arbeitsplätze leer sind. Rollcontainer Schreibtisch Kombinationen ermöglichen es den Mitarbeitern, ihren flexiblen Arbeitsplatz in wenigen Minuten einzurichten. Spinds mit Platz für große Taschen, in denen sich Laptops, Kuli und Schreibblock verstauen lassen, sind ebenfalls beliebt beim Shared Desk Prinzip. Für viele der Wissensarbeiter ist es sogar eine Selbstverständlichkeit geworden, mit Rucksack oder Trolley zum Arbeitsplatz zu reisen – beziehungsweise ihre Außentermine wahrzunehmen.
Dieser Verzicht auf einen festen Arbeitsplatz ist für den Menschen in der postmodernen Zeit mit Konsequenzen verbunden. Nicht lange her sind die Zeiten, in denen der Verwaltungsmitarbeiter, Bankangestellte, Ingenieur oder Manager morgens seine bequemen Schuhe aus dem Büroschrank holte, bevor er sich an seinen Schreibtisch mit Familienfoto und Topfpflanze setzte und den Computer einschaltete.
War das Unternehmen früher eine Art zweite Heimat, geht diese soziale Sicherheit auch durch Shared Desk Kulturen weiter verloren. Die Einen finden die neue Flexibilität gut und genießen ihre damit verbundenen Freiheiten, andere leiden unter den fehlenden sozialen Bindungen und vereinsamen regelrecht.
Heimatverlust im Privaten
Nicht nur beruflich, auch privat zeigt sich durch die Einschränkungen in den Corona-Jahren gut messbar, welche Konsequenzen soziale Isolation und fehlende soziale Bindungen haben. Menschen wünschen sich häufig vorgegebene Regeln, sozial sichere Strukturen und eine verlässliche soziale Rolle in der Gemeinschaft. Von 2020 bis 2022/23 haben sich viele dieser gesellschaftlichen Traditionen innerhalb kürzester Zeit regelrecht aufgelöst.
Kinder und Jugendliche haben in den prägenden Jahren vor dem Erwachsensein gelernt, soziale Kontakte über Smartphone und Rechner zu pflegen. Statt sich mit ihrer Clique oder Peer-Group im analogen Leben als vollständiger Mensch zu treffen, haben sie über Computerspiele, Social Media Angebote und Chatrooms alternative Communitys gefunden, in denen sie sich austauschen und eventuell kreative oder wertebasierte Projekte realisieren.
In den meisten Fällen werden sie ihre digitalen Beziehungspartner nie persönlich kennenlernen, selbst wenn sie täglich ihre intimsten Geheimnisse miteinander teilen. Diese Beziehungen leben ausschließlich auf digitalen Autobahnen…
Nachdem die sozialen Einschränkungen, Gesichtsmasken, Versammlungsverbote und Hygieneverordnungen Stück für Stück aufgehoben wurden, konnten sich ältere Menschen eher wieder auf das soziale Leben vor der Pandemie umstellen. Kinder und Pubertierende hingegen haben sich daran gewöhnt, Menschenmengen zu meiden und sich weiterhin auf die digitale Ebene zurückzuziehen. Psychisches Leid wie Ess- und Angststörungen, Mobbing, Verhaltensauffälligkeiten und Depressionen sind auch im Jahr 2024 sehr viel ausgeprägter als vor 2020.
Es ist unwahrscheinlich, dass analoge Geselligkeit und Heimatverantwortlichkeiten wie im Vereinsleben oder der Nachbarschaftshilfe neu entfachen werden. Doch Transformation hat es immer wieder in der Menschheit gegeben. Das Konzept „Kleinfamilie“ zum Beispiel gibt es erst seit rund 200 Jahren. Das, was wir heute mit Arbeit, Leistung, Karriere und Selbstbestimmung verbinden, würde einen Menschen aus der vorindustriellen Zeit völlig überfordern.
Postmoderne Lebenswelten
Die gesellschaftliche Realität wird zunehmend durch Pluralisierung und Individualisierung bestimmt. Pluralisierung bedeutet, dass wir Menschen uns immer freier für eine Lebensform entscheiden können, die uns zusagt. Sogar unser Geschlechtsempfinden (fühle ich mich eher als Mann oder als Frau) dürfen wir immer freier erwählen. Mit medizinischer Unterstützung ist es möglich, diese Entscheidung auch körperlich bis zu einem gewissen Maß zu vollziehen.
Mit der Pluralisierung geht die Individualisierung Hand in Hand. Die Vielzahl der individuell möglichen Lebensformen führen zu einer Gesellschaft, die aus lauter „durchschnittlichen Abweichlern“ besteht und einen regelrechten Druck zur Individualisierung erzeugt. In traditionellen Strukturen zu leben wie in einer Großfamilie, in der die Männer arbeiten gehen und die Frauen sich um die Kinder, die Alten, um das Haus und die sozialen Verantwortlichkeiten kümmern, erscheint abstrus und sektiererisch, zumindest im städtischen Zusammenhang.
Wir kennen solche pluralisierten, individualisierten Gesellschafts-Systeme aus Science Fiction Visionen, in denen Erdlinge und Aliens von allen möglichen Planeten zusammenleben. Hinzu kommt in unserer Zeit noch der wachsende Einfluss von künstlichem Leben. Selbst in Deutschland arbeiten schon mehr als die Hälfte der Unternehmen mit KI-Werkzeugen. In anderen Teilen der Welt ist der technische Fortschritt noch viel weiter, da dort weniger Wert auf Datenschutz und Schutz der Persönlichkeit gelegt wird wie bei uns.
Ob beruflich oder privat, die Auflösung traditioneller Lebenskonzepte ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wie bei jedem Fortschritt in der Menschheitsentwicklung gibt es zunächst Verwirrungen, Leid und Verirrungen, bis sich eine neue Ordnung etabliert hat. Wahrscheinlich wird die Jugend, die dank der Corona-Jahre in extrem kurzer Zeit in eine digitale, pluralisierte, menschenscheue Gesellschaft katapultiert wurde, nun Wege und Infrastrukturen graben, die zu einer neuen Werteordnung und alternativen Sicherheiten führen.
Jede Erfindung kann Werkzeug oder Waffe sein – möge unser Leben auf den digitalen Datenautobahnen zu mehr Selbstbestimmung, Fantasie und Mitgefühl führen – und nicht zum gleichgeschalteten Untertan, der durch die allgegenwärtige Überwachung nichts weiter mehr kann als gehorchen…