Schrei Dich raus – mach mehr daraus

Peter und Petra sind Zwillinge. Der eine Zwilling ist ein Junge, der andere Zwilling ist ein Mädel. Ansonsten sind sie sich voll ähnlich. Sommersprossen, rote Haare, gleiche Frisur, gleiches Lachen. Auseinanderhalten kann man sie nur, wenn sie nackt sind – was sie ärgert. Heute sind sie noch Kinder, doch schon in wenigen Jahren wird man auf den ersten Blick erkennen, dass Petra eine heranwachsende Frau ist und Peter ein heranwachsender Mann. Schlimm ist das, richtig schlimm.

Peter und Petra wären gern geschlechtslose Fabelwesen. Sie finden es widerlich, Menschen zu sein. Menschen sind gierig, gemein, hässlich und sie stinken.

In der Schule lachen die Kinder über Peter und Petra, die eineiigen Zwillinge mit dem xy und xx Geschlecht. Auch die Lehrer verspotten sie, weil sie so sind, wie sie sind. Petra und Peter sind Spiegelbilder ihres zweiten Teils. Wenn sie sich unterhalten, führen sie keine Dialoge, sondern Monologe. Sie denken in jedem Moment dasselbe, sind trotz der körperlichen Trennung miteinander verschmolzen. Sie sind eins.

Als sie in die Pubertät kommen, wird ihr Außenseiterdasein unerträglich. Die Mitschüler belassen es nicht mehr dabei, sie zu verhöhnen. Sie filmen das Paar heimlich und lauern ihnen auf dem Schulweg auf, um sie durch Prügel und gezielte Entstellungen unterscheidbar zu machen. Hier ein Schnitt im Gesicht, da ein Büschel Haare – den Rest erledigen die Hormone. Peter entwickelt Bartwuchs, den er verzweifelt mehrmals täglich entfernt, Petra wachsen Brüste, die sie abbindet. Peter und Petra weinen viel in dieser Zeit.

Trost finden die beiden Spiegelbilder nur nachts im Wald, wenn niemand sie sieht. Dann schlagen sie ihr Zelt auf und horchen auf das Draußen, das so gut riecht und so barmherzig ist. Die Pflanzen fügen sich hingebungsvoll der Natur, und die Tiere des Waldes tun, was so zu tun ist. Sie urteilen nicht, bewerten nicht, sie leben von Moment zu Moment. Fressen und gefressen werden, flüchten, sich vermehren, ruhen, weiterziehen und jagen.

Schrei alles raus…

Eines Nachts wird es um Mitternacht hell im Zelt. Erstaunt öffnen die Geschwister den Reißverschluss. Eine riesige Fee schwebt vor ihnen und schwingt ihren Zauberstab. „Schreit alles raus – macht mehr daraus“ singt sie wieder und wieder und lässt den Stab über ihren Köpfen kreisen. Irgendwann wird die Erscheinung der Fee langsam immer undeutlicher – im Morgengrauen ist sie gänzlich verschwunden.

Die Kinder packen das Zelt ein, bringen es in das Haus, in dem sie wohnen, und machen sich auf den Weg zur Schule. Auf dem Hinweg ist alles ruhig. Doch kaum haben sie den Schulhof betreten, ertönen die ersten Schmährufe.

„Spieglein, Spieglein an der Wand, ich fick‘ Dich, Du fickst mich im Inzestland.“ Petra erhebt ihre Stimme und schreit, schreit, schreit alles heraus, was sie quält. Ihre Wut, ihre Trauer, ihre Angst. Petra schreit sich frei.

Peter erhebt seine Stimme und schreit, schreit, schreit alles heraus, was ihn quält. Seine Angst, seine Trauer, seine Wut. Peter schreit sich frei. Die Menschen auf dem Schulhof erstarren. Es ist mit einem Mal so still, dass man ein Papiertaschentuch hätte fallen hören können.

Von diesem Moment an sind Peter und Petra frei. Ihr Schreien ist so furchteinflößend, dass nicht einmal die Lehrer es weiterhin wagen, sich über die Spiegelbilder zu erheben. Selbst wenn sie sich im Lehrerzimmer etwas über die eineiigen xx- und xy- Zwillinge zuflüstern, scheinen Peter und Petra es zu hören und schreien mächtiger als Löwen und Elefanten es tun.

… mach mehr daraus

Heute sind Peter und Petra bewunderte Attraktionen. Sie haben sich emanzipiert von den Menschen, können gnädig hinnehmen, wie sehr Hass, Gier und Gleichgültigkeit deren Gesichtszüge entstellen. Mit ihrer Spiegelbild-Akrobatik haben sie ein Geschäft gestartet, dass ihnen ein wohlhabendes Leben ermöglicht. Durch die Feinfühligkeit ihrer gequälten Seelen haben sie gelernt, die Geistesgifte ihrer Mitmenschen blitzschnell zu identifizieren und präzise zu benennen.

Die Menschen kommen zu ihnen, um sich erkennen zu lassen. Sie erhalten für einige hundert Mark eine Analyse ihrer inneren Gifte – all dieser Gifte, die Klimaströmungen, Tiere und Pflanzen nicht kennen können. Peter und Petra ergänzen sich zum perfekten Geistesdetektiv. Sie lösen jedes Geheimnis innerhalb weniger Augenblicke.

Peter und Petra haben kein Haus und keine Heimat. Sie ziehen umher mit Schaustellern und Gauklern. Sie leben in Zelten, so wie sie es schon als Kinder taten. Oft ziehen sie sich nachts zurück in einen Wald, wenn dies möglich ist.

Angst kennen sie nicht mehr, denn ihr Schreien ist mächtiger als jede Waffe. Sie können auf den gefährlichsten Marktplätzen der Welt übernachten, und sie können dabei die Flöhe husten hören. Man müsste schon eine Atombombe auf sie werfen, aus höchsten Höhen… Nein, es gibt keinen Weg, sie zu vernichten.

Schrei Dich raus, mach mehr daraus…

Geschichte von Eva Ihnenfeldt, 13. Juli 2024

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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