Eva fuhr mit der Rolltreppe nach oben – zum Bahnhof. Ihr gegenüber ging es abwärts, zur U-Bahn. Ein Mann in ihrem Alter war dort, fuhr abwärts. Eva und der Fremde starrten sich an. Er sah aus wie sie – nur in männlich! Etwas größer als sie, ungefärbte weiße Haare, gut gekleidet – und eindeutig ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Eva rannte die restlichen Stufen der Rolltreppe hoch, boxte sich durch die Leute und fuhr wieder abwärts. Sie lachten sich an, weil beide dieselbe Idee gehabt hatten. Nun fuhr er nach oben und sie nach unten. In Zeichensprache einigten sie sich rasch darauf, dass sie sich unten treffen würden. Da war es ruhiger.
Zwei Minuten später nahm Eva den Fremden an der Rolltreppe in Empfang. Beide hatten auf den ersten Blick erkannt, dass sie eigentlich eins waren. Eine Seele, zwei Leben. Was für ein Wunder, sich im echten Leben zu begegnen! Eva kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Wie schön er war mit seinen weißen Haaren, den männlichen Gesichtsfalten, den länglichen Händen und dem Mund, der etwas schmaler war als ihrer.
„Wie schön Du bist mit Deinen wilden schwarzrot gefärbten Haaren, der etwas kleineren Nase und den etwas volleren Lippen“ sprach seine Stimme aus, was sie parallel gedacht hatte.
Unfassbar, eine Seele, zwei Menschenleben, beide geboren am 3. März 1959. Eva in Bochum-Langendreer, Christian in Fulda in Hessen. Er war heute aus beruflichen Gründen in Dortmund, Eva war schon seit Jahrzehnten fast täglich beruflich in Dortmund.
Es war eine merkwürdige Begegnung. Zunächst versuchten die Seelenzwillinge, Fakten zusammenzutragen. Was war bei ihren verschiedenen Ahnen- und Elternhäusern verschieden? Was war gleich? Hatten sie dieselben Interessen? Dieselben politischen Ansichten? Dieselben Seelenaufträge?
Nach einer Stunde traten die ersten verlegenen Pausen ein. Langsam erschien ihr Christian nicht mehr schön, sondern einfach normal alt wie alle Männer im beginnenden Rentenalter. Und auch Eva hatte für Christian allen Charme verloren – irgendwie fand er sie sogar ein bisschen albern in ihrer Überschwänglichkeit.
Sie begannen, dem Blick des Seelenzwillings auszuweichen. Es war ein bisschen so, als hätte ihre persönliche Einzigartigkeit durch die Begegnung gelitten, wäre enttarnt worden. Sie mussten das Ganze schnell beenden, um nicht für immer desillusioniert als Halblinge weiterleben zu müssen.
„Scheiß auf Seelenzwillingszeugs“ Christian runzelte ärgerlich die Stirn, wie Eva aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ja, scheiß auf Seelenzwillingszeugs.
Sie wünschten sich eilig eine gute Nacht und ein schönes Leben, bevor Eva wieder die Rolltreppe hochfuhr zum Bahnsteig nach Witten.
Einige Nächte träumte sie von ihnen beiden. Einige Tage war sie wie betäubt, hatte an nichts wirklich Freude. Es war, als wäre sie nur noch die Hälfte von dem, was sie vor der Begegnung gewesen war.
Einige Tage lang hatte sie Angst, ihre euphorische Freude, einzigartig wunderbar, unaustauschbar und wichtig zu sein, käme nie zurück.
Doch das Leben brachte viele neue Begegnungen, Abenteuer, Wunder, Erkenntnisse und Bestätigungen: Ja, sie hatte eine herrliche Aufgabe auf diesem Planeten und ja, sie war einzigartig wunderbar, unaustauschbar und wichtig.
Rückblickend war sie aber doch froh, dass sie einen Bruder hatte. Eva sendete ihm von diesem Tag ab jeden Abend einen stillen Gruß:
„Der Herr segne Deinen Eingang und Deinen Ausgang, Deine Gedanken, Gefühle, Worte und Taten. Der Herr gebe Dir in jedem Moment die Gewissheit, geliebt und gebraucht zu sein. Bis zu Deinem letzten Atemzug. Amen“
Eva Ihnenfeldt, nachts am Bahnhof am 19.07.2024