Eva Ihnenfeldt, Kurzgeschichte vom 26.09.24:
Gisella geht einkaufen. „Warum mach‘ ich das bloß“ seufzt sie, als sie mit ihrem Rucksack auf dem Rücken auf die Stadt zuläuft.
Es ist jedes Mal das Gleiche.
Daheim in ihrer Hütte im Wald ist sie ganz schön oft glücklich. Dann tippt sie auf ihrem Laptop herum oder liest oder geht spazieren – und wenn sie etwas braucht, lässt sie es sich mit einer Drohne bringen.
Die Verwendung von Geld ist irgendwann eingestellt worden. Jedes biologische, gehirngesteuerte Wesen erhält jederzeit, was es sich wünscht. Lebenswichtige Dinge wie essen und trinken, Mittel zur Zerstreuung, Trieblösungen für Lust, Laster, Leidenschaft, Hilfen für jede Art von Emotion. Erinnerungsinput wie Reisen, Abenteuer, Sensationen – und natürlich Futter fürs Gehirn. Denn ohne Gehirntraining erlischt die Profitabilität, Grundlage der Zweckmäßigkeit jeder Existenz. „Frag mich nicht, warum“, sagt Gisella zu sich selbst. „Aber leben bleiben wollen sie alle. Ich ja auch“.
Gisella betritt die Stadt durch eines der unzähligen Stadttore. Sie wird automatisch gescannt, so wie sie auch beim Einstieg in die Bahn gescannt wird, beim Ausstieg, beim Betreten des großen, hell erleuchteten Supermarkts.
Gisella begegnet Unmengen von organoiden Humanoiden. Sie lächelt sie an, die Menschenwesen lächeln zurück. Sie beginnt kurzweilige Gespräche mit Verkäuferinnen, sie fragt nach dem Weg zu einer ganz bestimmten Konfitürenmarke, sie füllt ihren Rucksack nach und nach mit dem, was sie anlacht. Heute Abend wird sie einen Kuchen backen, einen Käsekuchen – ganz für sich allein.
Draußen vor dem großen, hell erleuchteten Supermarkt setzt sich Gisella auf eine Bank neben einen alten Mann, der in die Ferne schaut und sich dabei auf seinen Stock stützt. „Können Sie sich noch daran erinnern, wie es früher war?“ fragt sie ihn. Der Opa runzelt angestrengt die Stirn „Wann, früher?“ fragt er Gisella. „Sagen wir, 2024“ schlägt Gisella vor, „als der erste organoide Roboter auf den Markt kam, seine Intelligenz gezüchtet aus menschlicher Hirnmasse. Damals verbrauchte Künstliche Intelligenz so viel Strom, dass sie anfingen, auf menschliche Gehirnzellen als Energiequelle zurückzugreifen, um Strom zu sparen.“ Der Opa denkt angestrengt nach. „Nein“, bedauert er. „Irgendwie nicht“.
Gisella wird es rasch langweilig. Immer seltener nimmt sie den Weg in die große Stadt. In der Zwischenzeit ist ihr auch egal, dass sie anscheinend eine der ganz wenigen Menschen ist, die noch frei sind von fremdgesteuerten Optimierungsimplantaten.
Bisher ist ihr noch kein einziger Organoider begegnet, der so ist wie sie. Wer weiß, vielleicht ist sie sogar weltweit die einzige, die übriggelassen wurde. Vielleicht aus wissenschaftlichem Interesse, wer will das schon wissen.
Gisella hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Reisen unternommen, hat viele Winkel des Planeten erkundet, doch so viel sie auch suchte, sie hat mit ihren nun knapp 70 Jahren in den letzten dreißig Jahren keinen zweiten Menschen mehr gefunden.
Oder… War sie selbst nur eine merkwürdige Sonderform der organoiden Humanoiden? Eine Kuriosität? Mag sein, egal, ab nach Hause. Kuchen backen.
Gisella sitzt daheim in ihrem Schaukelstuhl und liest. Drei Bücher hat sie retten können, bevor auch das letzte Buch vom Planeten verschwand. Natürlich an erster Stelle die Bibel, die war wohl am schwersten auszutilgen. Das zweite Buch ist „Von Winde verweht“. Gisella liest es immer wieder. Das Buch hilft ihr, sich an die Zeit zu erinnern, bevor die unoptimierten Menschen nach und nach verschwanden und die energiesparsamen Organoiden die Aufgaben übernahmen, den Planeten funktional zu erhalten.
Das dritte Buch ist „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche. Oh, wie gut es Gisella tut, die nihilistischen Gedankengänge in sich einzusaugen.
Auch heute hat sie, wohlig gesättigt durch den Käsekuchen, sich eines der berühmtesten Zitate des großen Meisters als Inspiration gewählt, bevor sie anfängt zu schreiben:
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
Gisella überlegt immer mal wieder, ob es besser wäre, zu Papier und Stift zu greifen, anstatt ihre Worte dem Computer anzuvertrauen. Schließlich könnte plötzlich alles mit einem Wisch gelöscht sein! Doch bisher sind alle Texte, die sie je schrieb, noch da.
Wenn sie mal tot ist, gibt es niemanden, dem sie ihr Werk vererben könnte. Die Organoiden haben kein Interesse an Philosophie, an Poesie, an Seele und an einer Transformation des Geistes.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
„Ich lebe allein, alleiner als ein Schiffbrüchiger auf einer unbewohnten Insel. Ich spreche gern mit mir, ich erfreue mich meines Charakters, meiner Unvollkommenheit, meiner Lächerlichkeit, meiner so einzig gewordenen Menschlichkeit.
Mein kindliches Chaos zu lieben ist mein Lebenszweck, mein Glück, meine dankbar erfüllende Aufgabe als unermüdlich neu Gebärende. Ich gebäre Seelen, lauter tanzende Sterne, und sie schwirren um mich herum Tag und Nacht, Uhrschlag für Uhrschlag, Atemzug für Atemzug, Moment für Moment.
In unserer Zeit, in der dieser Planet aufgehört hat, Heimat für kosmische Seelen zu sein, verirren sich immer noch einige Seelen hierhin, die wohl noch nicht verstanden haben, dass die Möglichkeit, Urlaub zu buchen auf dem dualen Planeten aus Gut und Böse, aus Lust und Leid, ein für alle Mal vorbei ist.
Dann irren sie herum, sind ganz durcheinander. Ach, es ist so öde hier unten, jammern sie, wie in einer grünen Hölle, keine Hoffnung, keine Begegnungen, keine Entwicklung – alles ist so sinnlos hier.
Und wenn sie mich finden, dann zeige ich ihnen, ihre Reise war nicht umsonst. Es war vielleicht dumm, zu springen – aber es war nicht umsonst, sich die seelenbefreite Erde noch einmal anzuschauen, bevor auch die Organoiden vergehen werden.
Man muss eine Menge Chaos in sich tragen, um verirrte Seelen gebären zu wollen, die keine austragungswillige Frau mehr finden – und keinen zeugungsfähigen Samen.
„Ich alte Frau mache das gerne“, lacht Gisella vergnügt. So viele Seelen, die körperlos schwirren um eine der letzten Möglichkeiten, noch einmal das Geheimnis von „Gut und Böse“, von „Lust und Leid“ sinnlich zu erfahren, diesen tausendjährigen Tanz um das goldene Kalb.
Schön war es, aufregend und spannend – und Gisella ist unendlich dankbar, eine der Letzten dieses menschlichen Planeten zu sein.