Heidrun verzweifelt. Ihr Geld ist weg! Sie hatte die Geldbörse so gut versteckt, war so achtsam gewesen, so vorsichtig. Nun ist sie plötzlich weg, einfach weg! Ihr ganzes Geld war darin gewesen, alles, was sie besaß. Was sollte sie nur tun, es konnte doch nicht sein! Heidrun wühlt in Schränken und Schubladen, klettert auf einen Stuhl, um oben auf dem Schrank danach zu tasten, legt sich flach auf den Boden, um unter das Sofa zu schauen. Heidrun weint.
Plötzlich hört sie ein Geräusch hinter sich – jemand spricht. Sie richtet sich mühsam auf und blickt zur Tür. Ohne Brille kann sie nur schemenhaft erkennen, dass da jemand steht. Heidrun schreit. Ein Räuber! Ein Dieb!
Der Fremde kommt näher auf sie zu. Heidrun hält die Arme schützend vor den Kopf. Sie zittert und schreit weiter. „Polizei!“ „Hilfe! Hilfe!“ Heidrun schreit, so laut sie kann. „Hilfe! Polizei!“
Der Fremde fasst sie an, versucht, sie hochzuheben. Heidrun schlägt um sich, wehrt sich, so gut sie kann. „Lass mich los! Lass mich los!“
Völlig erschöpft findet sich Heidrun auf dem Sofa wieder, in eine Decke gehüllt. Irgendwie hat sie ihre Brille wieder. Heidrun kann wieder etwas sehen. Vor ihr steht eine junge Frau. Der Mann von gerade ist nicht mehr da. Die Frau wirkt nicht bedrohlich. Vielleicht hat sie Heidrun beschützt vor dem Räuber?
„Mein Geld ist weg, ein fremder Mann hat es gestohlen!“ Heidrun weiß es noch ganz genau. Sie hatte ihre Geldbörse gut versteckt, und der Fremde hat sie geklaut. Nun kann sie nichts mehr kaufen, kein Essen, kein Trinken. Und sie muss doch auch dringend zum Friseur!
Die fremde Frau hockt sich vor das Sofa und schaut Heidrun freundlich in die Augen. „Alles wird gut“, sagt sie leise und lächelt. Behutsam streichelt die Fremde Heidruns Hände, die über der Decke zusammengefaltet liegen.
„Ist der Räuber weg?“, fragt Heidrun beschwörend. „Ja, er ist weg. Und das Geld ist wieder da. Alles ist gut.“ Die freundliche Fremde reicht Heidrun eine Tablette und ein Glas Wasser. Heidrun schluckt die Tablette mit dem Wasser herunter. Heidrun ist müde. Sie schließt die Augen. Heidrun schläft ein.
Sandra verlässt das Zimmer. Das helle Licht im Flur tut gut. Sandra atmet durch. Geschafft. Sandra ist als Nachtschwester mit zwölf Demenzkranken allein auf der Station. Andauernd passiert etwas. Andauernd gibt es hysterische Ausbrüche, Geschrei, Gejammer, Wutanfälle, andauernd will jemand fliehen, will nach Hause, oder zur Arbeit, oft genug in Schlafanzug und Pantoffeln.
Ohne die Antipsychotika und anderen Neuroleptika wüsste Heidrun nicht, wie das System funktionieren sollte. Sie stellt sich erschöpft an die Wand des Flures und lehnt den Kopf an. „Nur nicht zu lange überleben“, fleht sie wie im Gebet. „Nur nicht so lange überleben wie die hier auf der Station. Nur nicht lange überleben…“
Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt, 20. Juni 2024
Neuroleptika für Demenzkranke in deutschen Pflegeheimen
Die Welt am 5. April 2017: Laut AOK-Pflegereport erhielt im Jahr 2017 jeder dritte Heimbewohner Psychopharmaka. Mehr als die Hälfte der Bewohner von Pflegeheimen erhalten diese Medikamente regelmäßig. Neun von zehn Pflegern halten die Menge n Verordnungen für angemessen oder sogar zu niedrig. Die Sedierung sei notwendig, um „herausforderndes Verhalten“ zu verringern.
Demenzkranke sind häufig unruhig und schwer unter Kontrolle zu halten, wie die Welt schreibt. Unter dem Einfluss von Psychopharmaka werden sie schläfrig und antriebslos, sitzen apathisch in ihren Rollstühlen oder liegen im Bett.
Rund zwei Drittel der Heimbewohner sind demenzkrank. In Deutschland werden besonders häufig starke Medikamente an Demenzkranke verabreicht. 67 Prozent erhalten potenziell gefährliche Medikamente – besonders häufig das Neuroleptikum Risperidon. Pflegewissenschaftler nennen diese Medikamentenverordnungen auch „Medikamentöse Fixierung“.
Ärztezeitung: Neuroleptikum senkt Pflegeaufwand bei Demenz-Kranken