Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat ein Volksbegehren zugelassen, das Berlin innerhalb des S-Bahn Rings zu einer weitgehend autofreien Zone umgestalten will. Private Autofahrten wären demnach nur noch 12-mal im Jahr erlaubt. (rbb24 vom 25.06.2025) Der Gesetzesentwurf ist laut Gerichtsbeschluss vereinbar mit der Berliner Verfassung, dem Grundgesetz sowie Bundesrecht. Innerhalb der nächsten vier Monate braucht die Initiative 170.000 Unterschriften, um das Volksbegehren zu starten. Hier mein persönliches Pro und Contra:
Mein persönliches Pro und Contra zu Verboten von privaten Autofahrten

Pro:
Seit zwei Jahren fahre ich aufgrund meiner Seheinschränkungen kein Auto mehr. Ich erlebe meine frische Zugehörigkeit zu den Öffi-Nutzern als echte Bereicherung meines Lebens.
1. Spannend, da ich nie weiß, ob ich mich auf den Fahrplan verlassen kann (so manches Mal habe ich befürchtet, ich müsse die ganze Nacht in einem Bahnhof verbringen, da nichts mehr fuhr).
2. Kommunikativ, da ich häufig mit Menschen in Kontakt komme, die ich sonst nicht kennenlernen würde. Vor einigen Wochen hat mir eine Mitfahrerin, die kaum Deutsch sprach, eine Reiswaffel geschenkt, als wir über verrückte Umleitungen abends an einem weit weg gelegenen Bahnhof ausgeladen wurden, und ich solchen Hunger hatte…
3. Ich kann im Zug (wenn ich einen Sitzplatz bekomme) schreiben, lesen, Pläne strukturieren… Wenn ich stehen muss, kann ich mich über Kopfhörer weiterbilden bzw. inspirieren lassen
4. Es gibt keine Autofahrten mehr, die mich stressen. Keine Gründe mehr, genervt oder in Selbstzweifeln verfangen zu sein, keine verzweifelte Parkplatzsuche mehr, kein Verfahren mehr trotz Google Maps – kurz, mir macht Bahn fahren riesigen Spaß.
Contra:
Ich lebe beruflich in einer Welt, in der so gut wie all meine Kollegen/innen täglich mit dem PKW zur Arbeit fahren müssen. Etwa die Hälfte von uns haben Anfahrtswege, die länger als 60 Minuten dauern. Müssten diese Pendler am Anfang eines Innenstadtrings ihre Autos in Parkhäusern für Pendler parken (und bezahlen) und dann auf passende Öffentliche Verkehrsmittel warten plus Fußwege bewältigen, würde sich die Anfahrtszeit auf mindestens weitere dreißig Minuten verlängern. Also:
1. Die Abgrenzung zwischen beruflich erlaubten Innenstadtfahrten und den als Privatfahrt eingestuften Fahrten könnte dazu führen, dass Pendler überfordert sind und ihre Jobs aufgeben.
2. Einkaufen: Für mich ist es reinstes Vergnügen, Waren des täglichen Lebens einzukaufen. Hier mal einen Liter Milch, da mal einen Blumenkohl im Angebot… Für eine einzige Person ist einkaufen ähnlich kommunikativ und erlebnisreich wie die Fahrt mit Öffis. Doch was ist mit Familien, in denen die Eltern berufstätig sind – die jedoch mit dem Auto keine „Privatfahrten“ unternehmen dürfen? Sollen sie die Kinder auf ein Lastenfahrrad laden und mehrmals wöchentlich auf diese Weise in den Supermarkt fahren – oder in den Kindergarten, zur Schule, zum Sport- oder Musikunterricht? Was ist, wenn die Familie pflegebedürftige Angehörige hat, die ebenfalls versorgt werden müssen? Kaufen dann alle nur noch bei Online-Diensten? Stirbt dann das Abenteuer „Supermarkt“ aus?
3. Private Unternehmungen: Sind wir alle bereit, die gleiche Anzahl an Event- und Beziehungsbegegnungen zu halten, wenn wir jedes Mal mit Bus, Bahn und per Pedes unterwegs sein müssen? Schlittern wir mit einer autoreduzierten dörflichen Bewegungsfreiheit in die Corona-Lockdowns zurück, die zu einem beeindruckenden Anstieg von seelischen und körperlichen Erkrankungen geführt haben?
4. Erweiterungen von Kontrollinstrumenten, um die neuen „Auto-Lockdowns“ durchzusetzen. Überall Kameras, mit denen Kfz-Kennzeichen automatisch ermittelt werden. Überall Polizei und Ordnungsdienste, die den Verkehr kontrollieren, Verweise und Bußgelder verhängen. Gerichte, die überflutet werden mit Prozessen aufgrund von Widersprüchen. Ausweitung der digitalen Identifizierungs- und Verfahrensmöglichkeiten, da die Gesetzesdurchsetzung nicht mit menschlichen Ordnungskräften zu bewältigen ist.
Kommentar von Ulf Poschardt zum Volksbegehren in Berlin
Ulf Poschardt, Herausgeber der Welt und umstrittener Gegner der links-grünen Politik, hat die Hoffnung, dass eine solche Entscheidung ein guter Schritt wäre, um einen politischen Umschwung in der Bevölkerung zu bewirken.
Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe viel recherchiert zur Zeit der Weimarer Republik, in der ja ebenfalls viele „linke“ Reformen realisiert wurden, wie zur Entfaltungsfreiheit der Frau; wie zum Umgang mit Menschenrechten (zum Beispiel mit Menschen, die in psychiatrischen Anstalten rechtlos weggesperrt waren); wie zum Erziehungsideal bei Kindern, die in erster Linie gehorchen und sich unterwerfen mussten.
Was daraus entstand, wissen wir. Auf der einen Seite amüsiert mich der radikal formulierte Kommentar von Ulf Poschardt, auf der anderen Seite erscheint er mir wie eine Prophezeiung in eine drohende politische Zukunft, die ich mit dem Deutschen Reich verbinde, in der sich die meisten Bürger/Innen dem Nationalsozialismus mit Begeisterung oder zumindest wohlwollender Zustimmung entgegenstreckten.
Käme zu den wachsenden politischen Einschränkungen noch Mangel, Hunger, Verzweiflung und wachsendes Elend hinzu wie damals nach dem 1. Weltkrieg, dann könnte das auch heute zu einer politischen Massenpsychose führen. Dann ruft das Volk nach dem starken Mann. Dann steigen Wille und Einverständnis, „Volksschädlinge“ zu vernichten. Ob bei der Hexenverfolgung oder in den zwölf Jahren des Tausendjährigen Reichs, was Ulf Poschardt hier sarkastisch heraufbeschwört, macht mir Sorge.