Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt: Kevin und Max lebten in sehr unterschiedlichen Welten. Während Kevin von Zeugung an lernen musste, mit einer feindlichen Umgebung klarzukommen, um zu überleben, war Max ein Mensch, dem Geborgenheit und Bedürfniserfüllung von Anfang an geschenkt wurden aus Liebe.
Kevin wusste schon als Säugling, was es heißt panisch um Hilfe zu schreien, ohne dass jemand kommt. Er kannte Einsamkeit, Ohnmacht, Schmerz und die Willkür einer Welt, die ihn jederzeit zwischen zwei Fingern zermalmen könnte, wenn es ihr gefiel. Er wuchs heran in diesen Erfahrungen, die sich in jeder Zelle ablagerten wie winzig beschriftete Gräber.
Max hingegen war eine Seele, die in Geborgenheit, Wärme, Vertrauen und körperlicher Liebe eingetaucht war, schon bei der Zeugung. Mit der Erfahrung, „richtig und wichtig zu sein“, lebte er wie einst Siddhartha nahezu im Paradies. War er traurig, wurde er getröstet, war er bedroht, wurde er beschützt, war er neugierig, konnte er forschen und lernen, wie es ihm beliebte.
Dass Kevin und Max sich überhaupt kennenlernen konnten, verdanken sie dem großen Krieg. Als junge Männer waren sie eingezogen worden, sie lagen im selben Schützengraben. Ist man Todesangst, Mord und Grausamkeit so ausgeliefert wie im Schützengraben, zählen Status und Herkunft nicht mehr.
Kevin und Max wurden Freunde. Kevin hatte gelernt, wie man überlebt – und Max konnte Herzen zum Leuchten bringen mit seinem unschuldigen Wesen. Irgendwann war der Krieg zu Ende und sie kehrten heim – Max im Rollstuhl und Kevin als Säufer und Tagelöhner.
Nun sag meine Seele, wo liegt Deine Sehnsucht, wo sitzt Deine Neugier, Dein Glück, Dein Begehr? Was willst Du lernen? Zu kämpfen, zu heilen, zu herrschen, zu dienen – genießen und feiern – was willst Du mehr?
Willst Du lernen zu töten und einsam zu sein?
Willst Du lernen zu glauben und im Wunschland zu sein?
Alles ist richtig, alles ist gut. Du bist hier, liebe Seele, ich wünsche Dir Mut.
Eva Ihnenfeldt, Oktober 2021