Margeritte langweilt sich. Nicht nur in diesem Moment, nicht nur an diesem Tag oder in der vergangenen Woche – Margeritte langweilt sich, seit sie auf diesem Planeten gelandet ist. Sie langweilte sich schon direkt nach ihrer Geburt – eigentlich hatte sie sich sogar schon während der Schwangerschaft gelangweilt.
Jaja, die schöne sorgenfreie Zeit im Leib der Mutter – wie langweilig! Was hätte sie fühlen müssen? Dankbarkeit? Hingabe? Vollkommene Liebe zu dieser Hülle, die ihr Nahrung, Schutz und sauerstoffreiches Blut bot?
Alle sagten später, Margeritte wäre ein „pflegeleichtes“ Baby gewesen. Nicht einmal direkt nach der Geburt hatte sie geschrieen. Margeritte nahm alles hin, was sie umgab. Sie fühlte keine Leidenschaft, keinen Widerstand, keine Begeisterung.
Es war ihr egal, was andere über sie dachten. Es fehlte ihr das Bedürfnis, ihre Mitmenschen zu übertrumpfen mit ihrem Wissen, ihrem Können, ihrer Ausstrahlung. Das Einzige, was sie sich wünschte, war, dass doch irgendwann diese Langeweile enden würde. Diese quälende, nie endende Langeweile, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Immer und immer und immer.
Beten konnte Margeritte nicht. Wohin auch sollte sie beten? Zu ihrer Seelenfamilie? Zu dem großen Gott, der über allem schwebte und den noch nie jemand gesehen hatte? Kein Mensch? Kein Engel? Kein Geist? Kein Untoter? Kein Dämon?
Margeritte hatte sich tapfer durchs Leben geschlagen. In der Schule war sie gut durchgekommen. In ihrer Freizeit blieb sie stets allein. Ihre Eltern hatten irgendwann aufgehört, sie für irgendetwas begeistern zu wollen. Sie aß, sie trank, sie schlief. Ihre Verdauung war gut und sie war selten krank. Margeritte tat alles, was ihr aufgetragen wurde. Sie blieb pflegeleicht.
Der Zug
Heute ist Margeritte in einen Zug gestiegen. Sie hat ihren Schulabschluss in der Tasche und ist nicht bereit, weiter ein pflegeleichtes Leben zu führen. Heute beginnt ihr Märchen. Das Märchen von dem Mädchen, das nichts berühren kann.
Ach, wenn’s mich doch gruselte…
Langeweile hat einen Vorteil: Der Mensch kann sich nur dann langweilen, wenn er keine Angst hat. Man könnte auch sagen: „Langeweile ist der Preis für ein geborgenes Leben wie in Abrahams Schoß“
Margeritte hat kein Ticket, kein Bargeld, keinen Ausweis, kein Gepäck. Sie sitzt im Zug nach Irgendwo und wartet darauf, dass etwas passiert. Als der Schaffner kommt und das Ticket kontrollieren will, wird sie aufgefordert, sich auszuweisen. Da sie das nicht kann, erwarten sie an der nächsten Station zwei Polizisten und nehmen sie mit zur Wache.
Lange muss Margeritte dort warten, bis irgendetwas passiert. Sie wird schließlich nach ihren Personalien gefragt, ihre Eltern werden angerufen, sie muss einige Unterschriften leisten und wird entlassen. Da sie nur eine Station weit gekommen war und die Wache in der Nähe ihres Elternhauses ist, geht sie zu Fuß zurück zu dem Ort, der bis heute früh ihre Heimat war.
Angst ist keine Lösung
Margeritte braucht einen anderen Antrieb als Angst, um der verzehrenden Langeweile zu entkommen. Nicht eine Sekunde lang hatte sie Angst verspürt bei ihrem kleinen Ausflug als Unperson. Doch etwas hatte sie gemerkt: Sie war neugierig gewesen, wie es weitergehen würde.
Neugierde
In der Schule hatte Margeritte gute Leistungen erbracht, weil sie in ihrer Langeweile keinen Grund hatte, den Lehrstoff zu verweigern. Da ihr Kopf nicht mit anderen Dingen beschäftigt war, fiel es ihr leicht, zu lernen. Mathematik, Biologie, Geschichte… Sogar in Deutschaufsätzen erbrachte sie in ihrer Leidenschaftslosigkeit gute Leistungen. Auch im Bereich Kunst und Sport fiel ihr die Anforderungserfüllung leicht, da sie keinen Widerstand gegen ästhetische Kulte verspürte und ihren Körper ohne emotionale Vorlieben vernünftig versorgte.
Dieses Mal ist Margeritte besser vorbereitet. Sie hat ihr erspartes Geld auf ihr Handy geladen, hat Wechselkleidung und ihr MacBook in einen Rucksack verstaut, kauft sich ein Deutschlandticket und steckt den Ausweis ein.
Der Zug – Teil 2
Margeritte hat erneut kein Ziel. Sie steigt einfach in den erstbesten Zug und fährt bis zur Endstelle. Auf der Fahrt wird sie einige Male Zeugin ungewöhnlicher Ereignisse, die allerdings nicht ihre Neugierde wecken können. Auch wird sie mehrfach in Gespräche verwickelt, die sie höflich beantwortet – aber diese verstärken sogar noch ihre Langeweile.
Ach wenn mich doch etwas bewegte…
Margeritte reist ein ganzes Jahr lang mit dem Zug durch erreichbare Länder. Sie lernt, wie man günstig übernachten kann und wie man als digitaler Nomade Geld verdient. Da sie nirgenwo krankenversichert und nirgendwo gemeldet ist, kommt sie nach dem einen Jahr wohlhabender in ihre Heimatstadt zurück, als sie zu Beginn ihrer Reise gewesen ist.
Hat sie auf ihrer Reise irgendetwas interessiert? Nein, sie hat getan, was ihr angeboten wurde an Möglichkeiten. Essen, schlafen, arbeiten – sogar mit einigen Männern hat sie geschlafen, weil es sich so ergab – doch nichts hat sie aus ihrer Langeweile gebracht. Nicht einmal Alkohol und Drogen konnten sie beeindrucken. Gleichgültig, was sie probierte, alles blieb so, wie es seit Anbeginn war. Langweilig.
Der Zug – Teil 3
Margeritte nimmt sich in ihrem Heimatort ein möbliertes Zimmer. Sie hat eingesehen, dass es nur einen einzigen Ausweg aus der quälenden Langeweile gibt: den Tod. Zu den Eltern hat sie schon längst jeden Kontakt abgebrochen. Niemand weiß, dass sie zurückgekehrt ist. Lange wird sie ihre Unsichtbarkeit sicher nicht aufrecht erhalten können, schließlich muss sie ab und zu aus dem Haus gehen, zumindest, um etwas einzukaufen.
Warum ist sie überhaupt wieder in den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt? Es war reiner Instinkt gewesen, der sie zurückgeführt hat, vergleichbar mit dem Instinkt eines Tieres.
Eines Tages ist es dann soweit. Margerittes Weg in den Tod führt sie zu einer günstig gelegenen Bahnstrecke, einsam gelegen und leicht zu erklimmen. Es ist kurz vor Mitternacht, als sie sich auf die Schienen setzt.
Margeritte wartet geduldig. Plötzlich sieht sie in der Ferne ein Licht, dass sich in der Schwärze der Nacht langsam und lautlos nähert. Margeritte runzelt die Stirn. Ein herannahender Zug kann es nicht sein. Alles bleibt still. Plötzlich versteht Margeritte. Was nützt es, sich umzubringen, wenn wieder nichts weiter bleibt als eine neue Episode aus „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Der Tod ist kein Ausweg, der Tod ist nichts weiter als Ende und Anfang einer Wiederholungsschleife in diesem verfluchten Kreislauf des Lebens.
Das Licht löst sich langsam auf und Margeritte geht nach Hause. Das also ist auch keine Lösung. Soll sie sich einfach in ihr ewiges Schicksal ergeben? Leben vielleicht alle Menschen in dieser gähnenden Langeweile? Oder sind sie einfach nur zu dumm, um den ewigen Zwang des Lebens zu erkennen? Was nur ist die Lösung des Rätsels? Gibt es überhaupt einen Ausweg?
Am nächsten Tag kauft sie sich zwei Filme: „Und täglich grüßt das Murmeltier“ und „Die Trueman-Show“. Außerdem kauft sie ein Abspielgerät und einen sehr großen Fernseher.
Immer und immer wieder schaut sie diese beiden Filme, die das Geheimnis von unentrinnbarer Langeweile verkörpern. Sie isst nicht mehr, schläft nicht mehr, trinkt nicht mehr. Die Lösungen in den Filmen erscheinen ihr albern. Nein nein, das ist es nicht. Weder eine Zweierbeziehung noch eine Leiter nach „draußen“ sind Lösungen, die dem Rätsel würdig gewesen wären. Die Lösungen in den Filmen sind so langweilig wie die Langeweile selbst.
Der Zug – Teil 4
Erst als Margeritte das Gefühl hat, dass sowohl der Fluch der ewigen Wiederholung als auch der Fluch der unentrinnbaren Fremdsteuerung in jede ihrer Zellen eingedrungen ist, steht sie auf und geht.
Wieder nimmt sie nichts mit. Keinen Ausweis, kein Handy, kein Geld, keinen Schlüssel. Wieder einmal führt sie ihr Weg instinktiv zum Bahnhof. Wieder einmal nimmt sie irgendeinen Zug, ohne auch nur nachzusehen, wohin er fährt. Es ist ein ICE. Unbehelligt fährt sie bis zur Endstation, bis Berlin. Sie steigt aus.
Aus den Tiefen des verzweigten U-Bahn-Netzes hört sie ganz leise ein Glöckchen läuten. Margeritte folgt dem Ton des Glöckchens, das unregelmäßig immer mal wieder ganz leise erklingt. Ping macht es. Margeritte lauscht mit offenem Mund. Margeritte wittert, irrt herum, schleicht auf Zehenspitzen durch die Gänge, rennt, stockt, hält den Atem an. Tränen rinnen ihre Wangen herab. Sie bemerkt es kaum. Ping machte es. Immer mal wieder.
Ping…
Alles ist plötzlich da. Sehnsucht, Verzweiflung, Angst, hilfloses Beben, todesbereiter Mut. „Bitte hör nicht auf“ fleht sie in ihrem Inneren. „Bitte verlass mich nicht. Verlass mich nie wieder.“
Stunden über Stunden irrt Margeritte zwischen den Reisenden und Wartenden durch das Untergrundgeflecht des Berliner Hauptbahnhofs. Sie fühlt sich dem Wahnsinn nahe, überwältigt von all diesen Leidenschaften, die sie nie zuvor erlebt hat. Diese Bereitschaft, alles zu tun, um den Ursprung des Glockentons aufzuspüren. In ihrer Phantasie tanzen ständig wechselnde Vorstellungen des Glockenton-Erzeugers herum. Eine gebückte, alte Frau in schwarz, ein riesiger leuchtender Engel, ein Windhauch, ein grinsender fetter Satan…
Weiterhin verspürt Margeritte weder Hunger, Durst noch Müdigkeit – doch irgendwann bricht ihr Körper zusammen. Ein Krankenwagen bringt sie fort.
Margeritte erwacht in einem sauberen, weißbezogenen Bett in einem Krankenzimmer. Durch einen Tropf läuft Flüssigkeit in ihre Blutbahnen. Margeritte sieht sich um. Alles ist so sauber, so ruhig, so hell, so „richtig“. Wieder laufen Tränen über ihr Gesicht. Margeritte fühlt zum ersten Mal in ihrem Leben Dankbarkeit, Freude, Hingabe, Glück.
Als die Tür aufgeht und eine Schwester lächelnd an ihr Bett herantritt, kommt noch eine weitere Regung hinzu, die Margeritte nie zuvor empfunden hat. Ein warmes Rauschen erfüllt ihr ganzes Sein, und Margeritte erkennt: Es ist Liebe, Liebe zu dieser Krankenschwester, ja, Liebe zu all den Menschen, mit denen sie über ein unsichtbares Wurzelgeflecht verbunden ist, seit sie auf dem Planeten Erde gelandet war.
Margeritte fährt heim. Der Sozialdienst des Krankenhauses hat bei ihren Eltern angerufen – und diese haben Geld an Margerittes PayPal Konto gesendet, damit sie sich ein Ticket kaufen kann und heimkommen. Der Sozialdienst hat auch eine günstige Zugverbindung ausgesucht – und als Margeritte am Heimatbahnhof aus dem Zug steigt, stehen ihre Eltern da und strahlen vor Glück. Ihr kleines Mädchen ist zurückgekommen.
Margeritte sollte nie wieder langweilig sein, so lange sie lebt. Das überwältigende Gefühl von Dankbarkeit, Hingabe und Nächstenliebe sollte sie nie wieder verlassen. Margeritte würde noch häufiger leiden, trauern, Angst und Verzweiflung erdulden müssen. „Jaja“, sagt sie oft „Leben ist kein Ponyhof“. Und ein glückliches Glitzern lässt dabei ihre Augen erstrahlen – und ein Lächeln umspielt ihren wissenden Mund.
Eva Ihnenfeldt im August 2024