Wie fühlen Sie sich, wenn Sie beim Autofahren Störungen erleben? Es geht zu langsam, jemand überholt Sie in rasendem Tempo, es wird gehupt… Da gibt es die Autofahrer vom Verfolgertypus. Sie schimpfen auf die anderen Verkehrsteilnehmer. Dann sind da die Opfertypen. Sie möchten am liebsten Beifahrer sein und die Verantwortung abgeben. Die Rettertypen suchen automatisch nach rettenden Möglichkeiten – sie sind oft die Ersten, die ihr Warnblinklicht anschalten.
Dramadreieck und Aussteiger

Aber dann gibt es noch eine ganz eigene Sorte Mensch: Sie nehmen alles so hin, wie es gerade ist, weisen niemandem Schuld zu und haben auch nicht das Bedürfnis, jemanden zu retten. Das sind die „Erwachsenen-Ich’s“. Gibt es eine Möglichkeit, selbst so ein autonom gelassener Aussteiger aus dem sogenannten Dramadreieck zu werden? Oder ist man gefangen im Bühnenstück von kontrollierendem Ankläger, hilflos Ausgeliefertem und barmherzigen Wohltäter?
Wir alle sind vollgestopft mit Vorwürfen, Schuldzuweisungen, Versagensängsten und einer verzweifelten Sehnsucht nach Anerkennung. Unser Selbsterhaltungssystem versucht auf rührende Weise, uns durch das Bühnenspiel von Ankläger, hilflos Jammerndem und heldenhaftem Retter im Gleichgewicht zu halten. Wahrlich: Das Leben ist kein Ponyhof, und dieses Dramadreieck ist so etwas wie ein Erste-Hilfe-Kasten im Krieg. So viele Schlachten, so viele Einschläge, so viele Momente von unbewusster Todesangst…
Ich mag sie alle
Ich mag die Verfolger, die ihren Selbstwert darüber retten, dass sie andere kritisieren (Studien nach 90 Prozent aller Autofahrer). Es sei denn, ich bin ihnen als Untergebener ausgeliefert, dann mutiere ich – zack zack – zum Opfer, das sich entweder „hysterisch“ wehrt oder wegläuft. Dann mag ich die Verfolger so gar nicht.
Ich mag die Opfer, die Hilflosen, die so rührend nach dem Retter suchen und bereit sind, sich dem rettenden Helden unterzuordnen, der bereit ist, Verantwortung für sie zu übernehmen. Es sei denn, sie versuchen, mich in die Rolle des Retters zu drängen. Dann laufe ich weg. Ich will keine Verantwortung für andere übernehmen, ich mag weder Dankbarkeit noch Anhänglichkeit. Ich mag Freiheit.
Ich mag die Retter, war lange Zeit selbst einer. Bis ich mit Ende dreißig aus einem Traum erwachte, in dem ich nichts weiter war als Jemand, der Pflaster auf eiternde Wunden klebt. Ich habe sofort verstanden. Das hat mich geheilt.
Die autonomen Aussteiger
Die autonomen Aussteiger gibt es nämlich auch. Ich persönlich habe zum Beispiel tiefe Sympathie für die Verzweifelten – und ebenso für die niedlichen Kritiker und Beschuldiger. Ich schaue sie mir an und kann aufrichtige Liebe empfinden.
Es sei denn, sie sehen in mir einen Schuldigen oder wollen mich zum Retter erheben. Dann erkläre ich, dass ich für diese beiden Rollen nicht tauge als einer der freien Dramadreieck-Aussteiger. Wenn das nicht hilft (hilft aber fast immer) werde ich unsichtbar. Ich gehe fort und bin nicht mehr erreichbar.
Aussteiger werden
Das Problem ist, dass die meisten Menschen nicht aussteigen wollen aus dem Spiel der drei Dramafiguren. Mal sind sie Verfolger (als Autofahrer, Kollegen, Eltern, Chefs, Nachbarn…), mal sind sie Opfer, mal sind sie Retter. Was dem Ausstieg entgegensteht, ist die verfluchte Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.
Aussteiger bedeutet, mit Einsamkeit klarzukommen. Aussteiger bedeutet, Sicherheiten zu verlieren. Aussteiger aus dem Dramadreieck sind die, die Jesus laut Neuem Testament bezeichnet hat als die, die „Vater, Mutter und die Familie verlassen“, um ein Leben zu führen, bei dem man nie weiß, wie es noch am selben Tag weitergeht.
Fremdbestimmung ist ja auch etwas, was Sicherheit gibt und Recht und Ordnung! Wir leben in einer Gesellschaft, die gnadenlos zusammenbrechen würde, wenn sie aus lauter Aussteigern bestehen würde, die nur dann gehorchen, wenn sie keine Lust auf Stress und Strafe haben – aber nicht, weil sie an einen Retter oder allmächtigen Führer glauben. Wir Aussteiger haben Spaß am Leben, wir leben im Moment und sind bereit, dafür die Konsequenzen zu tragen.
Mein Tipp für „Dramadreieck-Möchtegern-Aussteiger“
Mein Tipp: Beschäftige Dich mit Deinem höchstpersönlichen Bühnenstück aus Verfolger, Opfer und Retter. Wann bist Du wer? In welcher Rolle fühlst Du Dich am sichersten? Welche der drei Rollen machen Dir bei anderen Menschen am ehesten Angst? Welche der drei Rollen meidest Du in Dir selbst am meisten, weil sie Dir unheimlich ist bzw. gefährlich?
Hier ein Dramadreieck-Test, der ein erster Schritt ist, um mit Deinem höchstpersönlichen Bühnenstück in Kontakt zu kommen. Der Test ist zwar auf das berufliche Leben bezogen, lässt sich aber mit etwas Fantasie auch auf Familie und privates Umfeld „umdichten“. Viel Spaß!