Viele Menschen sagen „Ich kenne keine Langeweile, ich habe immer etwas zu tun“. Ich selbst fürchte Langeweile. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich seit frühester Jugend alles dafür getan, dass bloß keine Langeweile entstehen kann. Das erste Kind mit knapp 21, dann das zweite, das dritte, das vierte… Dann der berufliche Vollstart mit 60-Stunden-Wochen, Aufregung, Triumphe, Niederlagen, finanziell gute Zeiten, schlechte Zeiten. So ist es bis heute gelebt und ich liebe es genauso wie ich es immer geliebt habe. Bloß keine Langeweile!
Langeweile – das Übel unserer Zeit?
Statistiken belegen einwandfrei, dass immer mehr Menschen an Depressionen, Angst und anderen seelischen Problemen erkranken. Ich arbeite viel mit Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten gehen können – und deren größtes Problem Langeweile und Nutzlosigkeit ist. Wenn wir es gemeinsam schaffen, dass eine Arbeit aufgenommen wird, sehe ich, wie schnell sich die Ausstrahlung meiner Klienten verändert. Die Augen beginnen wieder, zu strahlen, der Körper hat mehr Spannkraft, es gibt etwas zu erzählen, kurz und gut: Der arbeitende Mensch ist stolz auf sich – und das macht stark und gesund.
Langeweile bedeutet, nutzlos zu sein. Natürlich kann man das Haus oder die Wohnung verschönern, man kann sich ein kreatives Hobby zulegen, kann am Computer spielen oder Bücher lesen, kann Sport machen oder VHS-Kurse belegen – aber all das kann Arbeit nicht ersetzen. Arbeit heißt, gebraucht zu werden. Geld ist dabei nicht einmal die Hauptsache – die Hauptsache ist, wichtig zu sein, stolz auf sich zu sein, sein Bestes geben zu können. Die Hälfte aller Rentner/Innen übernimmt Aufgaben bei der Erziehung der Enkelkinder – was für ein herrlicher Grund, morgens aufzustehen! Es geht nicht um Geld, es geht um Sinn.
Langeweile ist dann gut, wenn sie zu Aufbruch führt, weil man sie nicht mehr aushält. Langeweile kann dazu führen, dass man bereit ist, Risiken einzugehen. Langeweile kann dazu führen, Entscheidungen zu treffen und diese „Es reicht“-Entscheidungen entschlossen durchzuziehen. Langeweile ist ein Schmerz, der dem Schmerz von Gefängnisinsassen ähnelt, deren Tage aus unzähligen Minuten bestehen.
Ich bin überzeugt davon, dass wir durch die technologische Entwicklung schon bald in eine Zeit kommen, in der es für viele Menschen keine berufliche Perspektive mehr gibt. Kann sein, dass ich mich irre, aber auch in der Politik wird viel daran geforscht, wie steigende menschliche Obsoleszenz aufgefangen werden kann, ohne eine Systemkatastrophe zu provozieren wie im Kolonialismus, bei dem viele Ureinwohner und Verschleppte in den USA, in Australien, in Südamerika, Afrika, in Neuseeland und anderen Teilen der Welt zugrunde gehen: In Ghettos eingepfercht, an Langeweile erstickend, in Sinnlosigkeit und Perspektivlosigkeit gefangen.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Welche Berufe sind durch neue Technologien gefährdet?
Der Mensch braucht eine Aufgabe, die ihn zwingt, zu funktionieren. Langeweile ist meiner Erfahrung nach das Übel unserer Zeit. Vielleicht sind wir jetzt als Menschheit in der Gesamtheit wie Planeten-Ureinwohner, die durch den Kolonialismus ihre Kultur, ihren Stolz und Weisheit verloren haben. Unnütze Esser, die vom Staat ausgehalten werden wie Bettler.
Selbst Arbeit schützt nicht unbedingt vor Langeweile und Nutzlosigkeit. Burnouts haben in sehr vielen Fällen damit zu tun, dass eine ungesunde Mischung aus Langeweile und Stress vorliegt. Erfolge sind selten (oder werden nicht wahrgenommen), gestresste Kollegen und Vorgesetzte lassen ihren Frust an Kollegen aus, wie gehetzte Kaninchen versuchen alle, den oft sinnlosen, unverständlichen, sich ständig wandelnden bürokratischen Arbeitsanweisungen zu folgen, ohne Ärger zu bekommen. Burnout/ Boreout – vielleicht sehr nah miteinander verwandt. Langeweile heißt nicht, die Hände im Schoß zu falten und die Wand anzustarren – Langeweile heißt, keinen Sinn zu fühlen bei dem, was man tut. Und diese Langeweile macht unweigerlich krank.
Quelle: Zeitonline: Langweile, Stress, Kreativität