Seit Jahrtausenden fragen sich Philosophen, Mediziner und Geisteswissenschaftler späterer Generationen, was Gefühle sind, wie sie sich von Affekten unterscheiden und wie sie objektiv gemessen werden können. Einige Zeit lang galten die von Paul Ekmann festgelegten 6 Basisgefühle als Grundlage, was jedoch zwischenzeitlich widerlegt werden konnte. Richtig ist, dass die Messbarkeit und objektive, kulturübergreifende Einordnung von Emotionen anscheinend nur dann funktioniert, wenn man sich auf eine grobe Einteilung (wie Freude, Wut, Trauer, Ekel, Angst, Überraschung) beschränkt. Will man etwa an Flughafen durch Mimik-Erkennung potenziell gefährliche Passagiere herausfiltern, muss die Einteilung grob und allgemeingültig bleiben – so wie man sich der Körpersprache-Signale bei der Domestizierung von Hunden bedient.
Andere Geisteswissenschaftler wie C. G. Jung sehen Gefühle als komplexes System des menschlichen Individuums im Zusammenspiel von Denken, Empfinden, Fühlen und Intuition.
Abgespaltenes ins Bewusstsein holen
Denken, Empfinden, Fühlen und Bewerten ins Bewusstsein zu holen, ist in der heutigen Psychotherapie Grundlage für Heilung. Auch wenn sich die verschiedenen Schulen uneinig darin sind, inwieweit der Mensch über ein unabhängiges Innenleben verfügt (spirituell meist als „Seele“ bezeichnet), bemühen sich die Therapierichtungen darum, den Leidenden Werkzeuge an die Hand zu geben, um Denken, Empfinden, Fühlen und Intuition bewusst nachvollziehen zu können. Das ist die Voraussetzung für die Emanzipation von Fremdbestimmung und Traumatisierung. Man könnte auch sagen, Bewusstwerdung ist die Voraussetzung von Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Nächstenliebe.
Unterscheidung von Empfindung und Gefühl
Einig ist man sich darin, dass den Gefühlen (wie auch immer man sie benennt und kategorisiert) Empfindungen vorausgehen. Sinneseindrücke sind das, was zu Empfindungen führt – womöglich sogar nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Pflanzen.
Was nun ist der Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl? Die Empfindung besteht aus Sinnesreizungen, die blitzschnell interpretiert werden, um das Überleben zu sichern und Wohlgefühl aufzusuchen. Hier sind zum Beispiel Angst, Flucht, Wut, Angriff, Lust, Unlust, Appetit, Ekel, Entspannung, Anspannung, Unterwerfung und Lähmung zu nennen. Das alles und noch einiges mehr teilt der Mensch mit der Tierwelt. Auch das, was wir als „Freundschaft“ bezeichnen – die platonische, verlässliche Beziehung innerhalb einer Gruppe, in der wir unsere Rolle kennen und akzeptieren.
Gibt es ein unabhängiges Selbst?
Gefühle und die Fähigkeit zur Intuition sind mehr als das. In der Therapie erkennt der Leidende in seinen Bemühungen, Bewusstsein in sich selbst zu erlangen, wie schwierig es ist, Anerzogenes und genetisch Vorgegebenes von dem zu unterscheiden, was er zu Recht sein Eigen nennen kann. Der spirituell ausgerichtete Begleiter geht davon aus, dass es zu Emanzipation und Heilung führt, wenn der Patient erkennt, dass es dieses Selbst tatsächlich gibt – dass er mehr ist als ein programmiertes, domestiziertes Säugetier.
Gefühle sind komplex, vielschichtig, sind ein Dialog zwischen Erdenwesen und Seele. Was genau diese Seele ist, kann nicht gelehrt werden – es muss vom Patienten selbst erforscht und benannt werden. Der spirituelle Begleiter bewertet nicht. Der spirituelle Begleiter bemüht sich einzig und allein, dem Leidenden weiter in die Tiefe zu helfen, indem er dem Patienten Mut macht, frei zu denken, frei zu fühlen, frei zu interpretieren – und sich frei für Änderungen zu entscheiden – oder eben auch nicht.
Traut Euch, Eure Gefühle und Eure Intuition zu lieben wie Euer eigenes Kind. Traut Euch, ehrlich und unregierbar zu sein bei Eurer Abenteuerreise in den eigenen inneren Dschungel. Traut Euch, das Dickicht aus Denken, Empfindung, Gefühl und Intuition (Entscheidungsgrundlage) zu betreten, um Eure inneren Schätze aufzuspüren.
Es macht Spaß, freier zu werden von Domestizierung. Es macht reich, zu erkennen, dass es uns wirklich gibt – dass wir mehr sind als Erziehung und Gene. Forschung und Bildung führen dorthin. Egal, wo wir beginnen, wir dringen tiefer und tiefer, wenn wir uns treu bleiben. Bewusstseinsforschung ist der Schlüssel zu Emanzipation, Selbst- und Nächstenliebe. Oder, wie Bertolt Brecht formulierte:
„Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.„