Vor einigen Jahren sagte einer meiner Hartz-IV-Klienten zu mir, als ich ihm empfahl, sich Freunde zu suchen: „Arme können sich nicht miteinander befreunden, da immer jemand dringend Hilfe braucht. Nur die Familie gibt Halt. Gibt es diese nicht, ist man in der Not allein.“ Ich habe viel darüber nachgedacht. Ja, es ist schwierig, wenn ein Freund am Monatsende kein Geld mehr hat – aber Hunger. Oder wenn ein Freund Geld braucht, da er sonst aufgrund einer unbezahlten Rechnung an ein Inkassobüro weitergeleitet wird. In Zeiten wie dieser, in der immer mehr Menschen – auch wegen der gestiegenen Wohn- und Energiekosten – in finanzielle Not geraten, sind auch Zeiten, in denen wir lernen sollten, offen und ehrlich Antworten zu geben. Lernen wir das nicht, vereinsamen wir auch deshalb, weil wir uns vor Hilfesuchenden fürchten.
Alte Menschen und ihre Angehörigen

Heute erzählte mir eine Bewohnerin des Altenheims, in dem ich ehrenamtlich tätig bin, dass ihre Kinder sich von ihr zurückgezogen haben, da ihre Mutter ständig unter Geldsorgen leidet. Ich habe ihr erklärt, dass wir uns im Altenheim gemeinsam eine Strategie überlegen müssen, wie wir einander ohne Gewissensbisse „nein“ sagen können. Wörtlich meinte ich: „Früher sagten die Ehefrau abends im Bett, wenn ihr Ehemann Sex wollte und sie nicht, sie hätte Kopfschmerzen. Das ist nicht gut. Wir brauchen ehrliche Antworten, sonst verlieren wir uns im Nebel der Ausreden.“
Ehrlichkeit in Zeiten der Not
Wer im Altenheim tätig ist, weiß, dass dort sehr viele Menschen leben, die in Not sind. Die Einen wissen nicht, wie sie zum Friseur kommen sollen, da es mit Rollator sehr schwer ist, in Busse ein- und auszusteigen. Andere brauchen dringend neue Kleidung, da sie ihr Gewicht verändert haben, können aber nicht allein einkaufen gehen. Wieder andere wünschen sich, dass jemand mit ihnen spazieren geht, da sie gebrechlich sind. So viele Hilferufe, so viel Leid, was tun?
Wie lernt man, „nein“ zu sagen?
- Mache Dir bewusst, dass Du Dein Leben liebst. Mache Dir bewusst, dass Du Dein Leben genießen willst, so wie es Deine Katze oder Dein Hund tut. Wenn man sein Haustier überfordert, zeigt es ungeniert, dass es das nicht will. Haben wir es zu lange gestreichelt? Haustier springt vom Sofa, Haustier knurrt oder faucht, Haustier beißt… So haben auch wir das Recht, wegzugehen, unser Unbehagen auszudrücken, Bitten abzuwehren. Zunächst sollten wir uns eingestehen, wenn wir keine Lust haben, zu helfen. Hat man hingegen Lust zu helfen, einfach tun. Keine Angst davor haben, dass dann der Hilfsbedürftige das als Einladung sieht, immer häufiger immer mehr zu wollen.
- Ich empfehle ja immer, dass man schriftlich für sich selbst klärt, was bedrückt und wofür man eine Lösung braucht. Das rettet einen davor, andere Menschen zu verurteilen, weil sie als bedrohlich wahrgenommen werden. Bei mir sieht das zum Beispiel so aus:
Ein einsamer Hilfsbedürftiger spricht mir andauernd Sprachnachrichten auf WhatsApp. Das belastet mich. Warum eigentlich? Ich fühle mich gedrängt, diese abzuhören und darauf zu antworten. Wenn ich antworte, häufen sich die Sprachnachrichten noch mehr. So gerate ich unter belastenden Druck. Lösung: Ich schreibe in Buchstaben, dass mir das über den Kopf wächst. Ich habe mich entschieden, diese Sprachnachrichten nicht mehr abzuhören, da mir das zu lange dauert und da mir das nicht guttut. Ich bitte darum, in Zukunft nur noch zu schreiben statt zu reden. - Je früher man Gegenmaßnahmen ergreift, desto besser. Bloß nicht lange „gute Miene“ zum Spiel machen. Je ehrlicher man direkt ist, desto geringer ist die Gefahr, den anderen zu enttäuschen.
Die Kunst, lösungsorientiert zu leben
Ob in der Familie, ob in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis, immer wieder kann es passieren, dass wir uns bedrängt fühlen. Der Nachbar, der einen im Flur abfängt, weil er etwas Ausschweifendes erzählen will, das nicht nur langweilig ist, sondern auch mit negativen Urteilen gespickt. Da antworte ich: „Sorry, ich möchte mir das nicht länger anhören. Wenn Du schlecht über andere Menschen (Kinder, Jugendliche, Nachbarn, Vermieter…) sprichst, ballen sich diese Schwingungen in mir an und ich bekomme Bauchschmerzen. Ich vertrage das nicht. Nicht böse sein, ich gehe jetzt weiter“.
Ich habe stets die Erfahrung gemacht, dass diese Reaktion von mir sehr gut ankam und bei der nächsten Begegnung der Nachbar plötzlich total lieb redet. Kann natürlich sein, dass er hinter meinem Rücken über mich schimpft – aber das ist mir egal. Ehrlichkeit ist auch für ihn entspannend – dann weiß er, wo er bei mir dran ist.
Helfen wir gerne?
Ich helfe gerne, wenn ich Zeit und Lust dazu habe – und wenn ich nicht dazu gedrängt werde. Jede freiwillige Hilfeleistung ist ein Abenteuer, das mich vor Langeweile und schlechter Laune schützt. Habe ich viel zu tun und Sehnsucht nach Ruhe, helfe ich überhaupt nicht gerne. Dann sage ich „Tut mir leid, aber ich möchte Dir jetzt nicht helfen. Ich wünsche mir einfach Zeit für mich, einfach mal Ruhe, was kochen, ein bisschen lesen, für mich sein. Aber ich habe da eine Idee für Dich…“
Eine Idee…
Menschen, die hilfsbedürftig sind, können sehr gut Hilfe erhalten über digitale Netzwerke. Ich finde nebenan.de sehr spannend. Dort gibt es Menschen, die wünschen sich Gesellschaft, wünschen sich jemanden, der sie mit dem Auto zum Friseur fährt, wünschen sich jemanden, der ihnen beim Handy oder am Computer hilft. Ich kann anbieten, dem Hilfsbedürftigen dabei zu helfen, sich bei nebenan.de einen Account zu erstellen und einen Text zu formulieren für die Hilfesuche. Dabei frage ich ihn:
„Was kannst Du geben, damit es Spaß macht, Dir zu helfen? Unsere Welt besteht aus dem Gesetz von Nehmen und Geben. Jeder kann etwas geben. Was willst Du geben, wenn jemand bereit ist, für Dich da zu sein?“ So formulieren wir zusammen vielleicht:
„Ich wünsche mir jemanden, der Lust hat, mit mir gemeinsam etwas zu erleben. Was ich brauche, ist jemand, der ein Auto hat und mich ab und zu zum Friseur oder zum Einkaufen begleitet – maximal zweimal im Monat. Selbstverständlich zahle ich das Benzin. Was ich geben kann, ist, ein aufmerksamer Gesprächspartner zu sein, der gut und verständnisvoll zuhören kann. Da ich schon sehr lange lebe, kann es vielleicht für Dich wertvoll sein, mich als Dein Ohr zu nutzen und mir zu vertrauen.“
Es gibt immer eine Lösung. Sich innerhalb des Familienverbandes zu helfen, ist in der westlichen Welt nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Darum müssen sich die Hilfsbedürftigen bemühen, etwas zurückzugeben, wenn jemand ihnen hilft. Entweder der Staat bezahlt Hilfeleistende für ihre Hilfe – das ist ideal – oder man muss sich etwas anderes einfallen lassen, um den Ausgleich zu schaffen.
Es geht, aber nur, wenn der Helfende ehrlich ist und um Ausgleich bemüht. Ansonsten passiert das, was mein ehemaliger Klient erklärte: „Wir können nicht untereinander befreundet sein, weil wir ‚Armen‘ immer etwas brauchen. Diese Bedürftigkeit verhindert Freundschaften.“
Selbst Jesus ertrank in der Hilfsbedürftigkeit der Welt – in diesem traurigen Lied aus „Jesus Christ Superstar“