„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält…“ So beginnt das Gedicht „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke, geschrieben am 6. November 1902. Ich weiß noch wie heute, wie ich als junges Mädchen in der Schule dieses Gedicht entdeckte und es mich traf wie ein Schlag. Endlich fand ich die Beschreibung dessen, was mich seit frühester Kindheit quälte: Langeweile. Ich konnte ihn so gut verstehen, diesen Panther im Zookäfig. Dieses rastlose Hin- und Herlaufen, diese Lähmung einer Kraft, die sich selbst nicht kennt und die einer Welt aus Stäben ausgeliefert ist, die sie nicht versteht.
Muße, Müßiggang, Langeweile
Gesellschaftlich ist es verpönt, sich zu langweilen. Langeweile wird verbunden mit untätigem Herumhängen, sich gehen lassen, Faulheit, Egoismus. Während „Muße“ meist positiv assoziiert wird mit der Vorstellung eines Denkers, der sich zurückgezogen hat, ist Langeweile was für Versager. Müßiggang schließlich ist der Vater der Langeweile. Und wir wissen ja: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
„Ich kenne keine Langeweile, ich habe immer was zu tun“ ist ein Ausspruch von vielen Erwachsenen, die gelernt haben, dass der Wert eines Menschen sich an seiner Arbeit bemisst. Arbeit bedeutet, sich nützlich zu machen. Noch heute sagte ein Coachee zu mir: „Ich kenne keine Langeweile. Zur Not putze ich Fenster“.
Langeweile bei der Arbeit
Ich hingegen weiß kaum etwas, was mich mehr langweilt als meine Fenster zu putzen. Ich helfe mir damit, dass ich während der Arbeit Podcasts und andere Audiobeiträge höre, doch dieses Rauf und Runter auf der Leiter, dieses anstrengende Gewische des Glases und Putzen der Rahmen… das fühlt sich so sinnlos an wie das Hin und Her des Panthers im Käfig. Auch Gartenarbeit finde ich furchtbar – schon allein das ewige Bücken!
Langeweile und Ablenkung
Ich habe schon erlebt, dass ich eine Ballettaufführung (Nussknacker) im Konzertsaal dermaßen langweilig fand, dass ich überstürzt den Saal verlassen musste, weil ich es keine Minute länger ausgehalten hätte. Schon als Kind war ich unfähig, mich mit Dingen abzulenken, die mich nicht interessierten. Es gab viele Schulstunden, in denen ich die Sekunden zählte, bis die verhasste Latein- oder Mathestunde endlich vorbei war. Dann stürzte ich regelrecht aus der Klasse, nur raus aus der Langweile!
Heute habe ich äußerst selten Langeweile, und ich halte mich langsam für reif genug, sogar dauerhaft mit Muße leben zu können (aber vielleicht überschätze ich mich da…). Ich habe das Gefühl, dass mein persönlicher Panther nach und nach dem Käfigleben entkommen ist. Ich fühle mich frei, und das ist erfüllend. Ich brauche keine Ablenkung, die die quälende Langeweile tötet, ich bin im Frieden mit mir selbst.
Fremdbestimmung – Selbstbestimmung
Ältere schimpfen seit Jahrtausenden gern auf die Jugend von heute. Bei der heutigen Jugend wird am meisten bemängelt, dass sie ständig bespaßt werden will und nichts aushalten kann. Früher mussten schon Kinder arbeiten – da gab es keine Zeit für Langeweile. Doch wenn ich mir die arbeitenden Kinder aus Indien oder anderen armen Regionen der Welt anschaue, die Steine klopfen, Stoff färben, Kakaobohnen ernten, sehe ich den versklavten Augen durchaus etwas, was mich an den Panther aus Rilkes einzigartigem Kunstwerk erinnert. Quälend ausweglose Langeweile.
Lebensmüde
In meiner Welt ist Langeweile das, was sich im Blick als Müdigkeit ausdrückt, als traurige Lebensmüdigkeit. Ein geknechteter Mensch kann durchaus unerträgliche Langeweile bei seiner schweren Arbeit empfinden. Ebenso wie ein unterforderter Mensch im Stillstand von Zeit und Raum Langeweile fühlt. Und führt nicht die Unerträglichkeit von Langeweile auch zu Selbstoptimierungssucht? Zu Alkohol- und Drogensucht? Zu Spielsucht, Computersucht, Arbeitssucht, Erfolgssucht, Anerkennungssucht?
Leben auf diesem Planeten ist wahrlich kein einfaches Unterfangen. Sich selbst finden, sich selbst lieben, ganz so wie man ist, und auch das „da draußen“ so liebzuhaben wie sich selbst, ist wohl die schwerste Aufgabe von allen.
Ich wünsche allen Menschen auf diesem Planeten, dass sie das herrliche Gefühl kennenlernen, das Leben einfach genießen zu können – im Tun wie in der Muße – so wie die Vöglein unter dem Himmel. Wenn wir das geschafft haben, haben wir vielleicht das Rätsel gelöst. Also wenn Ihr Langeweile kennt (so wie ich) freut Euch. Nur Käfighühner, die die Stäbe sehen, können den Weg herausfinden in die Freiheit, selbst bestimmte Arbeit und erfüllende Berufung.