Heute früh habe ich den Podcast von Laura Stella (FürLeibundSeele) gehört, bei dem sie Maike Kranster (flowersandcandies) befragt zum Thema „Genuss“. Maike hat sich mit ihrem Blog ganz dem Thema Lebenslust zugewandt, berichtet über ihre eigenen Genussmomente und gibt Tipps, wie man sich das eigene Leben schön gestalten kann. Ich hörte also zu und wurde nachdenklich: Was bedeutet mir eigentlich „Genuss“? Was sagt mein Wertesystem dazu? Was verbinde ich mit Arbeit? Aufgabe? Berufung? Disziplin? Und was verbinde ich mit Freizeit? Genießen? Sich „etwas gönnen“? Und so stöberte ich durchs Netz, fand einen Psychotest in der Bravo, und die bei Jugendlichen beliebte App „musical.ly“, die mich weiter hat nachdenken lassen…
Was bedeutet für mich Genuss?
- Ich genieße es, wenn mein Tagewerk verrichtet ist und ich stolz bin auf das, was ich getan habe. Dann strecke ich die Beine aus und genieße diese Leere, diese unsagbare Freiheit, diesen Übermut, dieses „Jetzt fällt mir beim besten Willen nichts mehr ein, was ich noch erledigen könnte“. Das ist jedes Mal wieder wunderwunderschön. Kommt aber erst nach dem Tagewerk – ohne Arbeit kein Genuss.
- Ich genieße es (nach getaner Arbeit), wenn ich in der Natur bin und das Wetter es erlaubt, sich gemütlich auszustrecken und ein Buch zu lesen oder ein Hörbuch/ einen Podcast zu hören. Ich genieße es, wenn ich dann zwar in Gesellschaft von Menschen bin – doch diese Menschen so weit weg sind, dass ich sie aus der Ferne wohlwollend beobachten kann, ohne mich gestört zu fühlen oder sie zu stören. Ich genieße den freien Blick in die Ferne – je weiter, je besser.
- Ich genieße es, wenn ich einen Blogbeitrag geschrieben habe und zufrieden damit bin. Wenn ich meine Gedanken geordnet habe und spüre, dass ich einen Haken machen kann an ein Thema. Ich genieße es, wenn ich stolz darauf bin, dass ich ein Rätsel gelöst oder ein verwirrendes Thema in eine Ordnung gebracht habe. Ich genieße es, Worte aufs „Papier“ zu bringen und damit Gedanken archivierbar mache.
- Ich genieße es, wenn ich etwas verstanden habe, was ich zuvor noch nicht verstanden habe. Ich genieße es, wenn ich in einem Buch, einer Dokumentation oder einem Vortrag Neues erfahre, wenn ich ein wenig mehr verstehe von dieser so komplexen und ehrfurchtgebietenden Welt. Ich genieße Wissenszuwachs. Das gibt mir ein Gefühl von Gesundheit, Stärke und Heilsein.
- Ich genieße es, wenn ich das Gefühl habe, dass keine Rechnungen offen sind, dass ich mit der Ganzen Welt in Harmonie und Einklang bin. Ich genieße es, wenn ich mich frei fühle, weil mich die Welt um mich herum gern bei sich weiß, ohne mich als störend, lästig, bedrohlich oder verachtenswert zu finden. Ich genieße es, gewollt zu sein.
- Ich genieße es, in Gesprächen und aller Kommunikation in andere Menschen aufmerksam hineinzuhorchen und zu lauschen darauf, was sie wirklich fühlen, denken, sprechen. Ich genieße es aus vollen Zügen, einen Hauch davon zu ergattern. Ich genieße es, sie zu verstehen und zu enträtseln, wonach sie sich sehnen und was ich ihnen vielleicht dabei mitgeben kann. Ich genieße es, Menschen in ihrer Schönheit zu erkennen und ihnen Mut zu machen, ihre Berufung zu leben.
Und wie halte ich es mit Sinnes-Genüssen?
Natürlich genieße ich gern ein gutes Essen, einen freien Tag, ein unbeschwertes Beisammensein mit Freunden oder der Familie. Doch je älter ich werde, desto mehr treten diese Sinneseindrücke in meinem Genussleben zurück. Das war in meiner Jugend ganz anders. Da hatten Lust und Sinnesgenüsse oft absolute Priorität. Liebe, Überschwang der Gefühle, die Suche nach dem absoluten Kick trieben mich an. Und das war sehr gut so, sonst wäre ich verkümmert. Sehnsucht nach Lust ist auch Sehnsucht nach Sinn.
Heute habe ich das Gefühl, dass für mich alles Körperliche mehr in den Hintergrund tritt und das Geistig-Seelische das Zepter übernommen hat. Ruhe, Entspannung, Bedürfnislosigkeit, Frieden… es ist so schön, das leben zu dürfen. Keine Frage, meine wilde (und sehr lange) Jugend-Sturm-und-Drang-Zeit möchte ich nicht missen, doch älter zu werden empfinde ich als großes Privileg. Es fühlt sich an wie ein barmherziger Segen, der sich über meine unzähligen Fehler, Irrungen und Schandtaten legt. Das macht mich dankbar und befreit mein Gewissen.
Genuss im digitalen Zeitalter – der Homo Consumens?
Heute habe ich (es ist Sonntag und ich habe Zeit!) beim Surfen zum Begriff „Genuss“ die App musical.ly entdeckt und in der BRAVO einen Psychotest gemacht zum Thema „Welches Familienmitglied bist Du?“. Demnach bin ich ein Einzelgänger und das extrem ichbezogene Mitglied der Familie. Dann habe ich mir diese App Musical.ly heruntergeladen und vergeblich versucht, mit Hilfe von YouTube Tutorials zu verstehen, was es dort alles für Funktionen gibt.
Ich habe mir hunderte von kurzen Videos bei musical.ly angeschaut, in denen Jugendliche (ein einziger älterer Herr war auch darunter) vor der Kamera nach Musik sozusagen einen öffentlichen Spiegel leben. Die einen bewegen einfach nur ihren Mund nach der Musik und spielen, sie wären ein Star (was wir wohl alle in dem Alter vor dem Spiegel gemacht haben), die anderen tanzen zur Musik, machen lustige Sketche, und manche sind total kreativ bei ihren Kunst-Werken. Ich erlebe an meinen Reaktionen, dass mir die Fleißigen und Kreativen mit Anstand am Besten gefallen.
Ich wünsche mir Fleiß und das Gefühl von Berufung
Ich wünsche mir von Herzen, dass jeder Mensch seinen Bereich findet, in dem er unaustauschbar großartig und unbeirrbar fleißig ist. Ob es Briefmarkensammeln ist oder Kochen, egoistisch genussvoll leben oder Flüchtlingen die deutsche Sprache beibringen, sich um die Enkel kümmern, die Welt bereisen oder als Workaholic in der Arbeit aufgehen. Ob man studiert oder lehrt, Geld scheffelt oder minimalistisch lebt – es ist mir egal. Hauptsache mit jeder Faser leben und bereit sein, für seine Mission nachts aufzustehen und auch einmal Opfer zu bringen.
Maike Kranaster und Laura Stelle sind da absolute Vorbilder für mich, die ich bewundere für ihren Mut, nach außen zu gehen mit ihren Missionen. Ja, ihr Thema geht im weitesten Sinne um „Genuss“ – aber nicht aus Sicht des süchtigen Konsumenten, sondern aus Sicht des sich befreienden Menschen, der sich nicht weiter den Ansprüchen der Umgebung beugt. Der Mensch, der sich mit geradem Rücken der Welt zeigt und auch einmal voller Überzeugung ausspricht „Nein ist auch ein Satz“. Ich wünschte von Herzen, die Lauras und Maikes vermehren sich rasch und halten gut zusammen.
FuerLeibundSeele Podcast: Genuss ist eine Entscheidung
Schlimm finde ich Pechmarie aus Frau Holle
Ich komme nicht zurecht mit Phlegma, es erscheint mir wie ein Verbrechen am Leben, wenn Menschen das Prinzip haben „ihre Haut so teuer wie möglich zu Markte tragen zu wollen“. Als ich die vielen jungen Menschen mit ihren öffentlichen Spiegel-Präsentationen bei musical.ly durchgewischt habe, habe ich überlegt, wohin es führt, wenn wir Menschen uns nur noch definieren über Genuss, Konsum und gute Gefühle? Wenn Leistung spießig wird und Maschinen uns in immer mehr Lebensbereichen die Arbeit abnehmen? Wenn irgendwann sogar Richter und Ärzte nur noch auf Knöpfe drücken, um ihre Urteile durch Algorithmen fällen zu lassen und entsprechende Therapien anordnen.
Der Wert des Menschen in einer Welt der Maschinen
Welchen Wert hat der Mensch noch in einer Welt, die mathematisch genau funktioniert und in der Maschinen jeden Menschen mit seinen Genuss-Wünschen in Echtzeit analysieren und manipulieren? Werden wir so langsam zum Ungeziefer in dieser Welt? Oder zu Sklaven, die man nicht ausrottet, weil sie irgendwie noch zu irgendwas zu gebrauchen sind?
Unsere Genussorientierung könnte die Vorstufe sein zu einer Erkenntnis, dass wir Menschen in Wohlstandsgesellschaften nicht mehr wert sind als verwöhnte Adelige im Versailles vor der französischen Revolution. Man fragt sich nur, was dann passiert? Werden nur die Wenigen übrig bleiben, die zu kämpfen gelernt haben, die Meister sind in irgendeiner nicht von Maschinen ausführbaren Disziplin, die bequeme Diener sind in einer von künstlichen Algorithmen beherrschten Welt?
Warum sollte man sich Unmengen von verwöhnten Konsumenten halten, wenn es keinen Grund mehr für Konsum gibt, weil Produktion auf menschliche Arbeit weitgehend verzichten kann und wenn Geld und materielles Wachstum ihren Sinn verlieren? Wenn diese ganzen Menschen sich nur noch „gegenseitig die Haare schneiden“ ohne einen wirklichen Mehrwert für wen auch immer zu bringen? Elon Musk warnt gerade vor den Auswirkungen der künstlichen Intelligenz, und auch ich bin besorgt über diese Entwicklung, die den Menschen immer überflüssiger macht.
„No Fate“ – heißt es in Terminator II
Ich sehe ja ein, dass Genuss und Sinnesfreuden etwas Positives sind, wenn man unglücklich ist oder sich fremdbestimmt, unwichtig und sinnlos fühlt. Und natürlich sind Sinnesfreuden und Lust als Antrieb superwichtig, um sich zusammenzutun, Familien zu gründen, sich zu Communities zusammen zu schließen und die Zukunft mir Mut, Kraft, Durchhaltevermögen und Freude zu gestalten! Aber bitte: Lasst uns gemeinsam danach fahnden, was an jedem von uns so einzigartig wichtig ist, dass es auf keinen Fall fehlen darf.
Das ist für mich die einzige Chance, einem zukünftigen „Ungeziefer-Dasein“ zu entrinnen. Es ist mir tatsächlich ernst. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir als Konsumenten wichtig sind, weil das die Wirtschaft am Leben erhält. Das ist naiv. Nur wenn wir unseren Wert als Menschen erkennen, leben und stolz und selbstbewusst diesen unersetzbaren Wert in die Welt tragen, können wir eine grausame Dystopie verhindern. Mensch sein ist eine große Verantwortung und eine große Aufgabe. Wir sind Berufene – alle.