Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit sind die vier Kardinaltugenden, die auf dem Dachfirst des Goldnen Hauses in Danzig zu sehen sind. Diese vier Tugenden gehen auf Platon zurück – nicht etwa auf das Christentum! Platon sagt, dass der Mensch in der Lage ist, sich Gerechtigkeit „anzuerziehen“. Und wenn er sich darin unablässlich übt, kann er den aggressiven Antrieb in sich zu Tapferkeit wandeln, die Vernunft in Weisheit, und das sinnliche Begehren in Mäßigung. Und in diesem Goldenen Haus in Danzig soll die „schöne Judith“ noch immer im Haus umherwandeln und flüstern: „Übe Gerechtigkeit gegen Jedermann – Fürchte Dich vor Niemandem“…
Was aber ist nun Gerechtigkeit? Denk ich an Gerechtigkeit, sehe ich immer Jesus da hocken, wie er nachdenklich mit dem Stock seltsame Zeichen in den Staub zeichnet. Nichts sagt, während die aufgebrachte Menge von ihm ein Urteil – ein gerechtes Urteil – erwartet. Immer habe ich überlegt, was ihm wohl da im Kopf herumging. Warum er mit dem Stock gezeichnet hat. Musste er sich ablenken, – so wie beim Telefon-Kritzeln – um sich zu besinnen? Oder hatten die Zeichen einen Sinn, sozusagen eine „magische“ Bedeutung (was ich nicht glaube – so war er nicht). War er gelassen, innerlich aufgebracht (er war ja eigentlich ganz schön oft wütend!), unentschieden – oder suchte er einfach den richtigen Worten, um ein Leben zu retten?
Ein falsches Wort – und die Menge hätte die Frau gesteinigt –
Vielleicht ist „Gerechtigkeit üben“ die Kunst, mit dem Stock in den Staub zu zeichnen, bevor man spricht, bevor man Entscheidungen fällt, bevor man etwas tut, was man nie wieder zurücknehmen kann?