Kennen Sie Shoshana Zuboff? Sie ist wohl eine der umfassendsten Kritikerinnen der Digitalisierung. Schon vor dreißig Jahren formulierte die Wirtschaftswissenschaftlerin in ihren „Zuboffs Gesetzen“: „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Alles was automatisiert werden kann, wird automatisiert werden. Alles, was zur Überwachung dienen kann, wird zur Überwachung genutzt werden“ . Nun fordert sie uns Menschen dazu auf, Widerstand zu leisten gegen eine neue Art des Kapitalismus, der die Menschheit zu einer Spezi erklärt, die man züchten, manipulieren und ernten kann wie Getreide. – Und natürlich kann man unbrauchbare Teile dieser Spezi auch eliminieren?
Die Ottogroup hat am 31. Januar 2017 zu folgender Blogparade aufgerufen, die noch bis zum 31. März läuft:
#Digitalisierung: Was passiert da gerade eigentlich?
Weit mehr als nur Buzzword, Hype und Trend. Die Digitalisierung ist Realität, es gibt keinen Bereich des Lebens, der davon nicht beeinflusst wird: Handel und Konsum, Geschäftsmodelle und Märkte, Kommunikation, Journalismus, PR und Medien, das Arbeitsleben, Meinungsbildung, Demokratien, Gesellschaft…
Zur Blogparade der Ottogroup
Vom Industriezeitalter zum Überwachungs-Kapitalismus
Schon immer war es Sinn und Zweck der Profiteure im Kapitalismus, einen möglichst hohen Gewinn aus allen ihnen zur Verfügung stehenden vorhandenen Ressourcen zu ziehen. Arbeitskräfte, Rohstoffe, Prozesse, gesetzliche, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Märkte, Finanzflüsse und Vertriebswege. Doch mit der Digitalisierung kamen neue Möglichkeiten hinzu, und diese werden bisher nahezu unkontrolliert und widerstandslos perfektioniert.
Das Besondere an der Digitalisierung ist, dass Menschen, Orte und Dinge immer enger miteinander vernetzt werden. Sogar in Echtzeit sind fast lückenlos Informationen abrufbar, können ausgewertet und umgeformt werden. Dank Künstlicher Intelligenz und gigantischer Datenspeicherkapazitäten wird der Mensch Teil eines Überwachungssystems, das ihn behandelt wie jede andere Ressource. Die Frage in kapitalistischen Organisationen ist ganz einfach: Wie können wir den größtmöglichen Gewinn und die größtmögliche Rendite aus den vorhandenen Ressourcen ziehen?
Gedanken, Verhalten, Gefühle und Werte werden somit zu Eigenschaften der Ressource „Mensch“, werden kategorisiert, manipuliert, geerntet.
- Der Mensch als Bürger – Teil des Markt-Biotops
- Der Mensch als Gestalter – verarbeiteter Rohstoff für Forschung und Entwicklung
- Der Mensch als Konsument – Teil der Wertschöpfungskette
- Der Mensch als Störung – Teil einer Umgebung, die kontrolliert werden muss
- Der Mensch als Arbeitswesen – im Spagat zwischen nützlich und lästig
Der von Zuboff definierte Überwachungs-Kapitalismus ist eine logische Konsequenz aus der Digitalisierung, da durch die digitalisierte Komplexität Struktur und Kontrolle Voraussetzung sind für effiziente Prozesse und ein möglichst störungsfreies Wachstum. Je mehr Informationen verarbeitet werden, je mehr automatisiert und vernetzt wird – desto wichtiger ist die Überwachung aller beteiligten Komponenten. Denn mit der Komplexität steigt auch die Verletzbarkeit – die Sensibilität der Systeme. Atomkraftwerke sind sozusagen ein Witz gegen die Störanfälligkeit der Systeme im digitalen Zeitalter.
Kleinigkeiten können dank der digitalen Vernetzung jederzeit zu Katastrophen führen, die Geld und Ressourcen kosten. Ja, jede kapitalistisch ausgerichtete Organisation ist existenziell bedroht durch mögliche Störungen und Fehlfunktionen. Denn mit der Transparenz ist auch der Abbau von Hierarchien, Herrschaftswissen und Loyalitäten verbunden. Alles geht rasend schnell und ist schwer zu bändigen.
Digitalisierung: Was passiert da gerade eigentlich?
Wir Menschen haben die zunehmende Überwachung erstaunlich leicht akzeptiert. Der Zugang zu Informationen und Teilhabe ist so komfortabel, dass wir bereit sind, unsere Überwachung als Preis zu zahlen. Wir sind wie eine Herde Milchkühe, die geduldig und brav ihr Ressourcen-Leben annehmen, solange die Rahmenbedingungen angenehm oder zumindest erträglich sind.
Da wir nicht direkt mit den Auswirkungen des Überwachungs-Kapitalismus konfrontiert werden, können wir uns einreden, dass es gar nicht so schlimm ist wie behauptet. Da wir normalerweise ein recht konformistisches Leben führen, fühlen wir uns nicht bedroht, wenn wir wissen, dass unser Verhalten in der digitalen Welt abgebildet wird. Da wir sowieso nicht verstehen und wissen, was nun wirklich alles mit unseren Verhaltens-Daten geschieht, können wir auch keinen intelligenten Widerstand dagegen aufbauen.
Doch auf längere Sicht bedeutet die Digitalisierung und globale Vernetzung der Menschen, Dinge und Kommunikationen, dass wir Menschen immer umfassender manipuliert werden als Bürger, Konsument, Mitarbeiter. Eltern wissen, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben, Führungskräfte wissen, wie sie sich in ihrem Privatleben zu verhalten haben, nicht mehr gebrauchte Arbeitskräfte wissen, was von ihnen erwartet wird in ihrer Arbeitslosigkeit.
Im Überwachungs-Kapitalismus erhält der Mensch eine ganz neue Rolle: Er ist nicht mehr der ausgebeutete Mitarbeiter, der mit 40 entkräftet stirbt. Er ist auch nicht mehr der aufstrebende Konsument, der von immer neuen Erlebnissen und Gütern verführt wird – und der gemolken werden kann wie eine Milchkuh. Und er ist auch nicht mehr der Glücks- und Sinnsucher, der auf der Maslowschen Pyramide tanzt, und der mit seiner Intelligenz und Kreativität Innovationen einbringt in eine gewinnorientierte Wachstumsspirale.
Der durchleuchtete Mensch hört auf, selbstständig zu denken. Der überwachte Mensch hört auf, sich zu wehren. Der konformistische Mensch strebt nur noch nach Kicks, die gleich einer Droge berauschend wirken. Überwacht zu werden, raubt dem Menschlichen alles an Kraft und Mut, was die Schweigespirale der Massen durchdringt und als Avantgarde Veränderungen einläutet.
Doch kann man die Ressource „Mensch“ wirklich so leicht manipulieren? Kann man tatsächlich in den psychologischen Versuchslaboren von Facebook und Co zuverlässige Methoden entwickeln, um Verhalten zu steuern? Wie einflussreich sind Leitmedien, Algorithmen, Geolokalisierungen, Werbebotschaften, Suggestionen? Wie genau können Organisationen anhand unseres digitalen Verhaltens tatsächlich eine Persönlichkeitsanalyse durchführen – und wie können sie diese Persönlichkeit im eigenen Sinne steuern – oder im Extremfall unschädlich machen?
Digitalisierung und Politik
Der Überwachungs-Kapitalismus braucht definitiv ein Gegengewicht, und dieses Gegengewicht kann nur gesellschaftspolitisch gebildet werden. Überall auf der Welt entstehen schon Netzwerke von Menschen, die intuitiv oder strategisch solche Gegengewichte bilden. Auch wenn diese künstlerischen, politischen, sozialen, rebellischen und visionären Netzwerke noch nicht als große einheitliche Bewegung Einfluss auf Regierungen, Wirtschaft- und Finanzmärkte ausüben können, sind sie da. Und sie nutzen ebenfalls digitale Werkzeuge, um zu erstarken und sich zu verbreiten.
Meine Hoffnung liegt – so wie es auch Shoshana Zuboff beschreibt, in Demokratie und Bildung. Wir müssen unsere Regierungen auffordern, „Nein“ zu sagen zum Überwachungs-Kapitalismus. Unsere Regierungen müssen uns Bürger wirkungsvoll davor zu schützen. Wir haben mit der Digitalisierung eine mächtige Technologie geschaffen, die ein extremes Bedrohungspotential enthält – digitale Überwachung zielt auf Gedanken, Gefühle, Werte und Verhalten. Ich wünsche mir von allen denkenden Menschen, dass sie sich selbst in ihrem Verhalten hinterfragen und dass sie Spaß daran bekommen, politisch zu denken und zu handeln. Widerstand üben ist unsere Pflicht – und je länger wir damit warten, desto schmerzhafter wird der Prozess, Überwachung und untrennbare Vernetzung wieder zu entkoppeln.
Bildquelle: pixabay_geralt