Eva Ihnenfeldt: Ich bin kein Softwareentwickler oder Programmierer. Doch seit 2008, seit ich zum ersten Mal auf einem BarCamp war, ist mein Respekt hoch vor Menschen, die sich in digitale Herausforderungen vergraben, die stets nach komplexen Lösungen für nicht-haptische Anforderungen fahnden, die ständig neu umdenken müssen. Softwareentwickler sind zusätzlich häufig von einer Welt umgeben, die kein bisschen versteht, wie diese ganzen Herausforderungen sich zusammensetzen – und die schlimmstenfalls sogar meint, Programmieren und Entwickeln sei etwas für süchtige Gamer und sozial Gehemmte. Unfassbar!
Das BarCamp agile.ruhr 2016 im Unperfekthaus in Essen
Doch vielleicht ist es sogar gut so, dass der Mainstream nicht versteht, was sich da gerade für eine Kultur entwickelt –
entwickeln muss. Die Entwickler, die ich am Wochenende beim BarCamp Agile.ruhr traf, haben mir bei den vielen Sessions so viele Inspirationen auf den Weg gegeben, dass ich ganz erschlagen bin von der Fülle. Diskutiert wurden Themen rund um neue Arbeitswelten: Teambuilding, agiles Projektmanagement, Persönlichkeitsentwicklung, Kreativität in Prozessen, Unternehmenskultur. Wir sahen den Film „Augenhöhe Wege“ und überlegten in der anschließenden Diskussion, wie man Sinnhaftigkeit in die eigene berufliche Entwicklung am besten integriert.
Ich habe gelernt, wie sich diese Entwickler, – die zum Teil aus Konzernen kamen, doch häufiger aus innovativen jungen Technik-Unternehmen -, intensiv vernetzt haben, sich auf Stammtischen, Events, Netzwerkveranstaltungen austauschen und mit kreativen Methodiken an einem einzigen Abend bis zu 12 Themen durchackern können! Ich habe gelernt, dass das spontane Organisieren von Themen und Problemen (das Prinzip von BarCamps) auch sehr gut funktioniert, wenn sich nur acht oder zwölf Teilnehmer zusammenfinden. Auch dann kann demokratisch und freundschaftlich sekundenschnell entschieden werden, womit man sich in den nächsten 15 Minuten befassen will. Es geht!
Grundlage dieser ganzen Bewegung ist das Verständnis für agiles Arbeiten. Nina Eckhardt, Teilnehmerin und Inhaberin einer
Werbeagentur, hat es mir folgendermaßen erklärt: „Früher haben wir mit linearem Verständnis unsere Projekte geplant wie man eine Reise mit dem Zug plant. Wie lange braucht der Zug bis zum Ziel, wie viele Stationen durchläuft er, wie viel Zeit braucht man für welche Strecke. Das funktioniert nicht mehr. Heute im digitalen Zeitalter müssen Projekte geplant werden wie eine Überfahrt über das Meer mit dem Schiff. Kleinste Abweichungen des Kurses können – wenn sie nicht schnell entdeckt und korrigiert werden – zu einem völlig falschen Ziel führen. Ständige Feinjustierungen sind nötig, um nicht auf den falschen Kurs zu geraten.“
Agiles Arbeiten und Scrum
Ich habe kennen gelernt, was „Scrum“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Berthold Barth hat in seiner Session (Tools für die
Projektplanung mit der Scrum-Philosophie) erläutert, wie schwierig es für Softwareentwicklungs-Teams ist, Projekte durchzuführen. Ständige Ablenkungen, ständig wechselnde Teams, ständiger Zeitdruck und ständige Störungen auf der einen Seite – mangelnde Transparenz, mangelndes unternehmerisches Denken und mangelndes Verständnis für das vom Kunden gewünschte Projektergebnis auf der anderen Seite.
Scrum hat sich grundlegend diesem Problem in der Projektplanung angenommen und funktioniert ganz anders als die gewohnte lineare Projektplanung. Es gibt den Product-Owner, der nach außen und innen verantwortlich ist für die Kommunikation mit allen Stakeholdern – und für das Produkt selbst. Und es gibt den Scrum-Master, der ähnlich wie eine „Mutter der Kompanie“ dafür verantwortlich ist, dem Entwickler-Team ein möglichst störungsfreies Arbeiten zu ermöglichen. Hindernisse und Störfaktoren (ob technisch oder menschlich) werden in täglichen „Daily Meetings“ vorgestellt, um rasch gegensteuern zu können. Die Planung erfolgt anhand von „Akzeptanz-Kriterien“ und der Priorisierung von Anforderungen. Die Relationen der einzelnen Entwicklungsschritte sind der Maßstab. Die Schätzungen von zeitlichem Aufwand ist grundsätzlich sehr kritisch zu betrachten, da oft definitiv unmöglich.
Die Teams sind sich selbstorganisierende Systeme. Zwar hat Jeder seine Rolle, doch es gibt keine Hierarchien. Der Product-Owner ist dafür verantwortlich, dem Team den wirtschaftlichen und emotionalen Wert des Produkts für den Kunden verständlich zu machen. Alle im Team verstehen, welchen unternehmerischen Wert die Entwicklung des Produkt für ihr eigenes Unternehmen hat. Die Personalentscheidung für neue Entwickler übernehmen in einigen agilen Unternehmen sogar die Team-Mitglieder – schließlich müssen sie miteinander arbeiten.
Persönlichkeitsentwicklung in der agilen Community
Da Kommunikation, kreatives Schaffen und Work-Life-Balance für Software-Entwickler Basis für ihre Arbeit ist, ist es kein Wunder, dass gerade hier neue gesellschaftliche Modelle entstehen. Persönlichkeitsentwicklung und innovative Kommunikations-Erkenntnisprozesse werden ebenso selbstverständlich diskutiert und probiert wie basisdemokratische Unternehmens-Strukturen.
Neben den komplexen Herausforderungen in der Softwareentwicklung kommt hinzu, dass Unternehmen riesige Probleme haben, Entwickler zu finden. Darum ist die Bereitschaft groß, einen möglichst guten Rahmen zu bilden, in dem Open Space und selbstbestimmtes Arbeiten leben können. Der Druck ist naturgegeben so groß bei der Softwareentwicklung, dass die Geschäftsführung nach Kräften daran arbeiten muss, den Druck zu mindern durch menschengerechte Arbeitsbedingungen.
Agilität und Gesellschaftliche Dimensionen
Es entsteht hier eine Philosophie, die mich tatsächlich ein bisschen an die Revolution in den Sechzigern erinnert – nur auf ganz anderem Gebiet. Ging es damals um den Kampf gegen Tradition und Machtgefüge, geht es heute um die Vision einer weltweiten Vernetzung von Individuen, die selbstbestimmt miteinander arbeiten und sinnhaftig an der Erneuerung eines kranken Planeten arbeiten. Ob ökologisch, menschlich oder technisch – es gibt viel zu tun bei der digitalen Transformation, und der philosophisch gesellschaftliche Überbau ist Grundlage für die Erneuerung – Bewusstseinserweiterung funktioniert wie eine Schiffsreise: Ziel und Wert definieren, losfahren, korrigieren, lernen, nachsteuern.
Menlo Innovations repräsentiert wohl am besten die Philosophie des agilen Arbeitens in der Software-Entwicklung. Mit dem Buch „Joy, Inc“ hat der Unternehmer Richard Sheridan der agilen Bewegung einen wichtigen Baustein geliefert. Übrigens sitzt man hier als Programmierer immer zu Zweit an einem Rechner – das nennt man „Pair-Programming“.
Danke an alle Sponsoren vom Agile.Ruhr.Camp 2016!