Sich selbstständig machen? Gründen aus der Arbeitslosigkeit?

Es ist Sommer 2020. Die Gründungsintentionen der Deutschen sind aufgrund der noch niedrigen Arbeitslosigkeit gering. In den Medien wird fast ausschließlich die innovative StartUp-Szene gehypt – der klassische „Existenzgründer“, der sich selbstständig macht, um nicht länger auf dem Markt der abhängig Beschäftigten für sich zu werben (zum Beispiel, weil er/sie keine Chancen auf eine Anstellung hat) ist von der Politik in Zeiten geringer Arbeitslosigkeit unerwünscht. Im Folgenden einige Argumente gegen und für den Gang in die Selbstständigkeit aus der Arbeitslosigkeit:

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay 

Argumente gegen eine „Existenzgründung“

Allein der Begriff „Existenzgründer“, der die innovations- und investitionsgetriebene StartUp-Szene von den klassischen Gründern abtrennt, ist bezeichnend für die Einstellung, die Politik, Wirtschaft, persönliches Umfeld und Mainstream von Menschen haben, die sich selbstständig machen. Anscheinend hatten diese Leute vor dem Schritt noch keine Existenz?

Als Gründer trifft man an vielen Orten auf Misstrauen, Warnungen, Hohn und Widerstand. Viele Menschen sind dem nicht gewachsen und schämen sich regelrecht für ihre Pläne. Ja, es ist schwer, sich durchzubeißen – und nur ein sehr ernster Entschluss wird ausreichen, um sich erfolgreich gegen Familie, Behörden, Wirtschaftswelt – und das komplette persönliche Umfeld durchzusetzen.

In Zeiten, als Deutschland noch der „kranke Mann Europas war“, entstanden hervorragende Förderprogramme für „Existenzgründer“. Ich selbst habe 2004 in Witten mit Freunden eine eingetragene Genossenschaft für Gründer gegründet – und in den Jahren meiner Vorstandstätigkeit an die 500 Gründungen mit begleitet. Kaum jemand ist damals zurück in die Arbeitslosigkeit gefallen. Unsere Gründer sind zwar meist Selbstständige und Freiberufler geblieben bis heute (oder sie sind irgendwann zurück in eine Anstellung gegangen), doch warum nicht? Ist doch in Ordnung, kein Arbeitgeber zu werden!

Heute sind die Förderungen für Gründungen aus der Arbeitslosigkeit dermaßen miserabel und unzuverlässig (Kann-Leistungen), dass man sich fragt, ob man sie überhaupt in Anspruch nehmen soll. Bei 150 Tagen Restanspruch aus ALG I heraus ist die Motivation gering, wenn der sechsmonatige Gründungszuschuss nur 300 Euro höher ist als der Anspruch auf ALG I. Schließlich zahlt man diese 300 Euro ja schon für die Krankenkasse. Ganz klar: Die Politik hat kein Interesse daran, dass Menschen aus den Sozialversicherungssystemen fallen. Und das tut man, wenn man eine „Existenz“ gründet.

Am Bedeutendsten ist wohl tatsächlich der Fall aus den Sozialversicherungssystemen. Selbstständige haben keinen Anspruch auf Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall oder auf Urlaub. Zwar gibt es für Gründer aus der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit, eine Arbeitslosenversicherung abzuschließen, doch die Konditionen sind so schlecht, dass das kaum Jemand tut. Natürlich ist auch die Altersabsicherung ab sofort Privatsache. Eigentlich braucht man Liquidität für mindestens sechs Monate für Krisenzeiten – doch wer hat das schon?

Das alles bedeutet, dass man mit dem Gang in die Selbstständigkeit auf sich gestellt ist mit allen finanziellen und persönlichen Risiken. Leider gibt es in Deutschland keine Integration von Selbstständigen und Beamten in die Sozialversicherungssysteme. Und da man als Selbstständiger gleichzeitig Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist, zahlt man doppelt so hohe Beiträge bei der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung wie abhängig Beschäftigte.

Argumente gegen eine „Existenzgründung“

Argumente für eine „Existenzgründung“

Die Argumente, die nun folgen, sind emotional und unvernünftig. Sie erfolgen aus einer nun sechzehnjährigen Erfahrung innerhalb der Kaste der Selbstständigen und Kleinunternehmer. Ich nenne uns oft das „Fahrende Volk“ – denn wir sind wohl alles Menschen, die sich nicht gern verbiegen und die es sich nicht vorstellen können, abhängig beschäftigt zu sein. Bei den Meisten musste es zunächst zu untragbaren Arbeitsbedingungen kommen, bis sie dieses entschlossen „Jetzt reicht’s – ich mach mich selbstständig!“ in sich spürten – doch wer einmal das Wasser der Unabhängigkeit gekostet hat, wird süchtig danach. Nicht immer – aber meistens… Hier also meine unvernünftige Argumente für eine „Existenzgründung“:

  • Als unternehmerisch denkender Mensch fühlt man sich nicht wie ein Opfer, sondern wie ein Gestalter des eigenen Lebens. Auch in finanziell schwierigen Phasen gibt das Kraft und macht stolz auf sich selbst. Egal was auf mich einstürzt, ich denke nicht in Problemen, ich denke in Lösungen. Ich nehme das Leben wie das Wetter und versuche, das Beste draus zu machen. Man hört auf zu urteilen und sich ungerecht behandelt zu fühlen. Dieses Gefühl der Selbstverantwortung ist unbeschreiblich schön.
  • Man bekommt ganz andere Freunde und Vertraute. Ich weiß noch, wie mir ein wichtiger Auftrag wegbrach und mir auf dem Flur des Gründergebäudes ein anderer Selbstständiger Trost zusprach: „Es geht immer weiter“. Das war 2008 und er sollte recht behalten. Es macht solchen Spaß, mit Menschen zusammen zu sein, die sich gegenseitig unterstützen – weil sie alle wissen, was es heißt, immer wieder vor Katastrophen zu stehen. Abenteurer, Kreative, Entdecker, Erfinder, Leistungssportler des Business… hier wird nicht gemeckert – hier wird gehandelt. Wundervoll!
  • Gerade wenn alles ausweglos erschien, erwachte in mir die Löwin und ich erzielte die besten Erfolge. Oder wie ich gern sage „Hunger ist des Arbeiters bester Freund“. Ich weiß nicht ob die Studien stimmen, die behaupten, Selbstständige haben eine höhere Lebenserwartung als abhängig Beschäftigte – aber ich weiß, dass ich seit 2004 fast jede Nacht schlafe wie ein Bär und auch mit 61 noch sehr gesund bin.
  • In finanziellen Krisen bin ich bisher stets über mich hinausgewachsen. Ich habe neue Herausforderungen angenommen, die ich mir zunächst nicht zutraute – und das waren die besten! Das Schönste für mich selbst ist tatsächlich an meinem freien Leben, dass ich mich immer wieder neu erfinden darf und muss. Das lässt mich in meiner Persönlichkeit wachsen und hält jung.
  • Früher war ich Konsument – seit 2004 bin ich durchdrungen von diesem unternehmerischen Denken. Vollzeit-Selbstständige konsumieren nicht – sie investieren. Fahren sie in Urlaub (falls sie überhaupt in den Urlaub fahren), sind sie weiterhin erreichbar, kaufen sie sich etwas Schönes, tun sie es oft mit dem Hintergedanken, dass dieses Schöne auch ihrem Business nützt. Klamotten nützen dem Image; Auto, Geschäftsausstattung und Büro nützen dem Respekt, den der Kunde vor uns haben soll. Ein gutes Gefühl, sich nicht länger zu fühlen wie eine manipulierte Konsum-Laborratte. Man fühlt sich irgendwie frei…und irgendwie mächtig…
  • Jeden Moment kann alles scheitern, alles vernichtet sein, was man sich als Selbstständiger oder Unternehmer über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut hat. Für die meisten Menschen ist diese Tatsache das Hauptgegenargument für eine „Existenzgründung“. Und doch liebe ich gerade dieses Gefühl der stetigen Unsicherheit. Sehnen wir Menschen uns nicht alle auch nach Abenteuer? Nach dem Abenteuer Leben? Verfolgen wir nicht gern in den Medien die Abenteuer von Weltenbummlern und leidenschaftlichen Aktivisten? Machst Du Dich selbstständig, wirst Du zwar nicht unbedingt berühmt (und wer will schon berühmt sein), aber Dein Leben wird ein bisschen so sein wie das Leben eines Abenteurers.
  • Unternehmer sind Jäger. Um als Jäger die richtigen Entscheidungen zu treffen, musst Du Deine Sinne spitzen wach sein und die richtigen Kontakte haben. Wo Andere sich künstliche Kicks verpassen müssen über die Erlebnis-und Wellness-Industrie, bekommst Du sie geschenkt. Langweilig wird es wohl nie als Selbstständiger – es ist immer was los.

So, wenn das alles spannend klingt, dann empfehle ich den folgenden Beitrag, um sich ausgiebig einen ersten Überblick über die Gründung aus ALG I heraus zu verschaffen. Wie gesagt, im Moment sind die Förderbedingungen so miserabel, dass viele lieber ihren Anspruch auf ALG I ausschöpfen und sich in dieser Zeit auf ihre Gründung vorbereiten – ohne auf die Zustimmung des Vermittlers/ der Vermittlerin angewiesen zu sein. Und doch gibt es gute Gründe für eine geförderte Gründung. Allein der Zwang, einen vernünftigen Businessplan zu schreiben, ist es wert. Und das meine ich ernst. Nur wer sich intensiv mit seiner Geschäftsidee, mit Finanzierung und Marketing auseinandersetzt, hat einen erwachsenen Start in die Welt der Freigeister. Und wer seine/n Vermittler/In überzeugen kann, hat schon ein wichtiges Level des unternehmerischen Denkens erreicht. Darum sage ich: Ja, befolgt die derzeitigen Regeln, schimpft nicht sondern handelt strategisch – und nutzt alles an Gründer-Netzwerken und Gründer-Veranstaltungen, was erreichbar ist. Das ist nämlich das Wichtigste: Gemeinschaft, Inspiration uns Austausch. Und für Jede/m gibt es hier die richtige Nische. Versprochen…

Gründerküche.de: Alles über den Gründungszuschuss 2020 – alles über die Fördermöglichkeiten aus dem Bezug von ALG I heraus.

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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