Eva Ihnenfeldt, Social Media Dozentin: Was ist ein Social Media Shitstorm? Diese Frage beschäftigte uns heute im Social Media Marketing Unterricht – und live kam direkt ein konkreter Fall zu uns, den wir genau untersuchen konnten. Gestern lief in der ARD ein 30-minütiger Bericht über das Subunternehmersystem des Hermes Versandes – einer hundertprozentigen Tochter der OTTO Group. Der Bericht führte aus, dass Hermes-Fahrer mit rund 60 Cent pro ausgeliefertem Paket entlohnt würden – was Netto-Stundenlöhne von etwa 3 Euro ergibt.
Der Bericht war sehr schockierend, und wir baten auf der Facebook-Fanpage von OTTO um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen. Schließlich ist OTTO nicht nur Vorreiter in Bezug auf Social Media, der Konzerninhaber Michael OTTO legt auch großen Wert auf seinen guten Ruf als sozial verantwortlicher Arbeitgeber – und diese ARD-Berichterstattung passte überhaupt nicht ins Bild.
Auch andere Fanpage-Fans beschwerten sich über die Praktiken von OTTO, der über ein Subunternehmersystem sich anscheinend komplett seiner Verantwortung entzieht und einkalkuliert, dass Menschen, die kein Hartz IV beziehen wollen, bis zur Selbstaufgabe arbeiten – für 750 Euro monatlich netto – mit eigenem PKW und auf eigenes Risiko. Sie fahren mit ihren privaten Fahrzeugen und tragen alle Kosten dafür selbst – bezahlt wird nur jedes erfolgreich zugestellte Paket.
Die Redakteure der OTTO-Fanpage (über 227.000 Fans) ignorierten die Postings der OTTO-Enttäuschten und ließen zu, dass eifrig in den Kommentaren diskutiert wurde – ohne einzugreifen. Wenn ein OTTO-Kunde hingegen etwas zu einer Bestellung schrieb, wurde wie gewohnt geantwortet.
Twitter-Shitstorm
Bei Twitter brach direkt am Morgen ein Shitstorm los: innerhalb weniger Stunden war #hermes Nummer zwei der Twitter-Top Themen – viele Twitteraner gaben Links vom ARD-Beitrag weiter, von Berichten aus dem SPIEGEL und anderen Medien, innerhalb kurzer Zeit gab es auf twitpic eine Spott-Fotocollage, die einen Hermesboten als Bettler zeigt, der aus einer OTTO-Thermoskanne ein heißes Getränk spendiert bekommt.
Erst nach 14.30 Uhr antwortete ein Twitter-Otto-Redakteur (@otto_de – über 20.000 Follower) auf eine der Anfragen zum Thema – mit dem Hinweis, man möge die entsprechende Website von Hermes besuchen, um weitere Informationen zu erhalten. Weitere Stellungnahmen gab es nicht.
OTTO und Hermes in den Medien
Da Michael OTTO sehr viel Wert auf das soziale Image der OTTO-Group legt, war die Empörung in den Medien natürlich besonders hoch – ich nenne so etwas den „Guttenberg-Effekt“ – je mehr sich jemand auf ein moralisch hohes Pferd setzt, desto angreifbarer macht er sich. Es gab direkt am 4. August 2011 einige Zeitungsberichte: im Spiegel, in der taz… insgesamt 35 Artikel werden in Google News aufgeführt. Im Hamburger Abendblatt wehrt sich Hermes gegen die Vorwürfe und legt offen, was Hermes den Subunternehmen pro Paket zahlt: „Hermes wehrt sich gegen Vorwürfe“
Die Social Media Krisenstrategie von OTTO
Jedes bedeutende Unternehmen, das Social Media nutzt, ist auf Shitstorms und Social Media Krisen vorbereitet. Wir können also davon ausgehen, dass hier keine verschreckte Vogel-Strauß-Politik stattfindet, sondern eine bewusste Strategie hinter der Unberührbarkeit des OTTO-Konzerns steckt. Wahrscheinlich hat die Kommunikationsführung beschlossen, auf Kritik zu reagieren nach dem Motto „Don’t feed the trolls“. Dieses Motto wird im Web 2.0 genutzt, um mit Provokateuren im Web umzugehen – nicht füttern, nicht antworten, einfach ignorieren – und bei Beleidigungen löschen.
Doch ist es wirklich vernünftig, aufrichtig empörte Kunden, Interessierte und Twitter-Influencer zu ignorieren – und darauf zu hoffen, dass sich der Sturm schnell wieder legt? Wäre es für ein Unternehmen, das sich als kommunikativ zugänglich und modern verkauft, nicht wichtig, sich genauso engagiert zu verhalten wie bei Beschwerden von Kunden, die sich bei Facebook über einen nicht sofort erhaltenen Teppich ärgern?
Wir diskutieren viel über die Attribute Aufrichtigkeit, Transparenz und Authentizität im Social Web. Jeder der Keynotespeaker betont die Unabdingbarkeit dieser Grundsätze, wenn man in den interaktiven Dialog mit dem Kunden tritt. Doch der Fall OTTO zeigt, dass hinter den Kulissen doch lieber anders verfahren wird. Im Fall Maschmeier war die Strategie nicht von Erfolg gekrönt – durch die Verweigerung einer Stellungnahme zu einem ARD-Bericht brachte sich der ehemalige AWD-Gründer ins Abseits – auch Anwälte konnten ihm nicht helfen… ob OTTO mit seiner Schweige-Strategie mehr Glück hat?
Hermes ist in Deutschland der größte postunabhängiger Logistik-Dienstleister bei der Zustellung von Paketen an Privatpersonen.
Zum Beitrag vom WDR: ard-exklusiv „Das Hermes-Prinzip – Ein Milliardär und seine Götterboten“
Spiegelonline: Die Paketboten und der Milliardär
Focus: Die Leiden der Götterboten