Gastbeitrag von Markus Walz, Autor von Romanen und von Ratgebern für Hochsensible: „Weißt du eigentlich, dass du hochsensibel bist?“, fragte Sarah, nahm einen kleinen Schluck aus dem weißen Kaffeebecher und sah mich ernst an. Mein Blick schweifte an ihr vorbei, aus dem Panoramafenster meines Wohnzimmers in den Vorgarten mit den wunderschönen roten und gelben Rosen. Alte Sorten, die noch intensiv nach Rose dufteten. Mein Gehirn lief auf Hochtouren.
Dass ich hochintelligent war, wusste ich. Das hatte ich mit Anfang dreißig bei einem psychologischen Test
herausgefunden. Dass ich schon immer etwas anders tickte, war mir ebenfalls bewusst. Genau greifen konnte ich es nicht, doch bemerkte ich in Gesprächen mit und durch Reaktionen von Menschen in meinem Umfeld, dass ich eine ungewöhnliche Art des Denkens und der Wahrnehmung besaß.
Der Hörtest bei der Musterung zum Wehrdienst hatte ergeben, dass auch mein Gehör außergewöhnlich gut war und ich hohe Frequenzen besonders deutlich hörte. Sie überlagerten sogar die mittleren Frequenzen, so dass Gespräche bei rauschendem Wind oder in Umgebungen mit anderen hohen Geräuschen mir schwerfielen. Mein Geruchs- und Geschmackssinn schien ebenfalls außergewöhnlich zu sein, denn im Malt Whisky Tasting konnte ich feine Nuancen heraus riechen und Whiskys anhand des Geschmacks den Destillen zuordnen, die mir gut bekannt waren. Außerdem schmeckte ich einzelne Gewürze und Zutaten aus Gerichten heraus.
Mit meiner Bewunderung für die Natur und überlaufende Emotionen bei ergreifenden Filmszenen und Musikstücken, die mich berührten, galt ich in meinem Freundeskreis „schlimmer als eine Frau“. Überhaupt war ich schon immer sehr emotional. Doch das hielt ich die meiste Zeit in mir verschlossen.
Sowieso hatte ich bereits seit dem Kindesalter das Gefühl, dass in meinem Inneren viel mehr geschah als im Außen und dass dort viel mehr Raum und Weite war, als bei den meisten anderen Menschen. Woher ich das wusste? Ich sprach mit Menschen nicht über das Wetter, über Sportereignisse oder Politik. Ich wollte schon immer alles über die Menschen wissen; wie sie waren und im Inneren funktionierten. Ich sprach mit ihnen über ihr Leben, ihre Erfolge, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Freuden, ihre Ansichten und Erfahrungen im Bereich des Zwischenmenschlichen, über philosophische und psychologische Themen. Kurz gesagt, mit mir konnte man nur tiefsinnige Gespräche führen oder herumblödeln und Spaß haben.
Etwas dazwischen gab es nicht. Oberflächliches Gequatsche interessierte mich nicht. Das ging manchmal so weit, dass mir wildfremde Menschen in 5-Minuten-Begegnungen (so habe ich sie für mich getauft) im Zug oder in der Stadt, beim Einkaufen oder im Café am Tisch nebenan, ihre gesamte Lebensgeschichte oder ihre aktuellen Herausforderungen schilderten. Nur weil ich eine harmlose Frage gestellt oder sie einfach interessiert angeschaut hatte.
Viele Menschen in meiner Umgebung kamen zu mir, weil ich zuhörte. Ich hörte sogar so gut zu, dass ich während der Treffen unserer Clique in meiner Lieblingskneipe an bis zu vier Gesprächen gleichzeitig teilnahm, was meine Gesprächspartner regelmäßig überforderte.
„Nein“, sage ich kurz und kehrte mit meiner Aufmerksamkeit an den schwarzen Esstisch im Kolonialstil zurück. „Davon habe ich noch nie gehört. „Ist das ansteckend?“ Es sollte eigentlich ein Scherz sein, doch irgendwie traf ich einen wunden Punkt. Noch so ein Talent von mir.
„Das ist keine Krankheit und somit auch nicht heilbar“, schnappte Sarah zurück. „Es ist viel mehr eine Gabe oder eine Sammlung von Wesenszügen. Sie betrifft unsere gesamte Wahrnehmung. Hier, ich hab dir ein Buch zum Thema mitgebracht.“ Sie legte ein grünes Buch auf den Tisch, das ich skeptisch anschaute.
„Weiß nicht, ob ich das lesen will“, sagte ich und dachte: „So ein Spökes. Mit mir ist doch alles in Ordnung. Warum sollte ich mich mit sowas beschäftigen?“
„Das solltest du, dann geht es dir besser“, entgegnete sie bestimmt und energisch.
„Mir geht es doch gut“, entgegnete ich automatisch. Ich war schon seit meiner Kindheit selbstreflektiert und wusste so ziemlich genau, was in mir vorging und wie ich mich fühlte.
„Danach geht es dir noch viel besser. Du gibst viel zu viel Energie für nicht notwendige Dinge aus. Du fühlst dich oft schlapp und ausgelaugt. Besonders nach der Arbeit fühlt sich dein Gehirn an, als würde ein Wirbelsturm darin toben und es wäre gleichzeitig in Watte gepackt. Du sehnst dich häufig nach Ruhe und ziehst dich zurück, um wieder zu dir zu kommen. Du hältst dich dauernd in anderen auf und grübelst nicht nur intensiv über deine, sondern auch über ihre Probleme und Herausforderungen. Du hast oft das Gefühl, mit neuen und in überraschenden Situationen überfordert zu sein und brauchst Zeit, um dich an sie zu gewöhnen. Viel mehr Zeit, als andere für die Gewöhnung benötigen.
Außerdem hasst du es, dich lange in Menschenmassen zu bewegen, weil dich die ganzen Eindrücke, die kleinen Details, die Körpersprache, die Mimik und die Gefühle der Menschen überfluten. Du drohst darin zu ertrinken. Nachher bist du immer fix und fertig. Du hast das Gefühl, dass du alles intensiver wahrnimmst, als andere.“ Sarah wärmte ihre Handflächen am Becher und lächelte mich an.
Das überraschte mich ehrlich. Ich kannte Sarah erst ein paar Monate. Wir hatten uns intensiv per Mail ausgetauscht und waren so ein Paar geworden. Ein Paar, das sich bisher nur an wenigen Wochenenden getroffen hatte. In unserem Austausch ging es bisher vornehmlich um unsere Vergangenheit, um unsere erstaunlich vielen Gemeinsamkeiten und um gesundheitliche, philosophische, psychologische und spirituelle Themen. Sie konnte mich nicht so gut kennen und doch hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
Ich hatte 10 Jahre in einer zentralen Verwaltungsstelle gearbeitet, in einem Büro zusammen mit 6 Kolleginnen und Kollegen. Das stetige Kommen und Gehen der 160 Mitarbeiter aus dem Gebäude riss kaum einmal für fünf Minuten ab. Dauernd wurden Gespräche geführt, dauernd wurde ich gefragt, wo sie dieses und jenes finden konnten und ob ich dies und das eben mal schnell erledigen konnte.
Abends zu Hause war ich kaum noch fähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Am liebsten hätte ich mich bereits nach 2 Tagen Arbeit für den Rest der Woche zurückgezogen. Als ich dann den Quereinstieg in die IT-Abteilung (die aus mir und 3 Kollegen einer externen Firma bestand), wurde es ein wenig besser, da ich nun ein Einzelbüro bekam und alleinverantwortlich arbeiten konnte.
Doch nun saß ich den ganzen Tag an den Arbeitsplätzen der Kolleginnen und Kollegen und führte mit ihnen tief greifende Gespräche über den Sinn ihres Lebens, die Sorgen um ihre Kinder und Familien, um Geldnöte. Kurz gesagt, ich hörte zu und versuchte, ihnen hilfreiche Tipps zu geben. Meistens blieb es jedoch beim Zuhören und ihre Geschichten verfolgten mich oft wochenlang im Unterbewusstsein. Manchmal fiel mir spontan Tage später eine Lösung für ihre Probleme ein. Doch wenn ich sie darauf ansprach, stellte ich fest, dass sie sich schon lange nicht mehr mit ihrer Herausforderung beschäftigten und sogar vergessen hatten, dass sie überhaupt eine gehabt hatten. Komischerweise hatte es auch gar keine Lösung gegeben und irgendwie auch keine verlangt.
„Woher weißt du das?“, gab ich ehrlich verblüfft zurück.
„Das ist bei allen Hochsensiblen so. Wir nehmen genauso viel auf, wie alle anderen. Vielleicht auch ein bisschen mehr, wenn unsere Augen, Ohren, Geschmacksknospen und Nervenenden in der Haut stärker oder empfindsamer ausgeprägt sind. Allerdings filtert unser Gehirn die eintreffenden Eindrücke und Informationen nicht so stark, wie es bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen der Fall ist. Manche nennen es Filterschwäche, aber das hört sich eben nach Krankheit an.
Die Wissenschaftler, die das Phänomen seit den Neunzigern intensiver untersuchen gehen davon aus, dass auch das Gehirn bei Hochsensiblen anders arbeitet und sich die neuronalen Bahnen anders verknüpfen. Die meisten Hochsensiblen nehmen Zusammenhänge wahr oder stellen sie her, wo anderen nichts auffällt. Dadurch sind sie oft sehr empathisch und aufmerksame Beobachter. Das Mehr an Informationen, das bis zum Gehirn vordringt, um verarbeitet zu werden, sorgt wohl dafür.“
„Wie ist das denn bei den anderen Menschen? Wie filtern die?“, hakte ich nach.
„Das Gehirn sortiert direkt nach Eintreffen der Eindrücke unserer fünf Sinne alles aus, das für die aktuelle Situation nicht wichtig ist. Zum Beispiel Hintergrundgeräusche, Gespräche, die an benachbarten Tischen stattfinden, Mimik und Körpersprache von Menschen, auf denen gerade kein Fokus liegt. Das alles wird direkt wieder gelöscht und erst gar nicht verarbeitet.“
„Das bedeutet dann ja, dass das Gehirn von Hochsensiblen viel mehr leisten muss.“ Ich nahm einen leckeren Schokoladenkeks und biss die Hälfte ab.
„Na ja insgesamt eigentlich nicht. Die Gehirnleistung ist ja sowieso bei jedem unterschiedlich. Allerdings ist unser Gehirn mehr damit beschäftigt, für uns unwichtige Informationen zu verarbeiten.“
„Das führt ja dann zwangsweise dazu, dass das Gehirn andere Sachen vernachlässigt oder schneller erschöpft“, schloss ich messerscharf.
„Richtig. Man nennt das Überforderung oder Überreizung. Wir benötigen in einem solchen Zustand längere Ruhe- und Erholungsphasen. Wenn wir uns die Zeit nicht geben oder gönnen, kann das langfristig zu gesundheitlichen und psychischen Schäden führen. Viele Hochsensible werden depressiv oder erkranken psychosomatisch.“
„Wie sehen diese Ruhephasen aus?“
„Ich zum Beispiel ziehe mich zurück und mag dann mit niemandem sprechen. Am liebsten wäre ich ganz allein irgendwo in einer einsamen Hütte im Wald. Außerdem achte ich darauf, dass ich möglichst wenig neue Informationen und Impulse bekomme, die ich noch verarbeiten muss. Wenn ich nicht einfach ruhen kann, tue, schaue, lese oder höre ich Sachen, die ich bereits kenne und besuche nur Orte, die mir nichts aufregend Neues bieten können. Oft gehe ich spazieren oder fahre mit dem Rad im Grünen umher, möglichst weit weg von Menschen und Begegnungen.“
„So geht es mir auch. Manchmal bleibe ich das ganze Wochenende zu Hause, schaue alte Serien, lese Bücher, die ich liebe und schon zigmal gelesen habe, bade, schlafe viel und gehe stundenlang im Grünen spazieren. Dann mag ich nicht mal einkaufen oder mich verabreden. Das geschieht immer dann, wenn ich im Laufe der Woche immer mehr das Gefühl habe, mein Gehirn laufe voll und ich könne nichts mehr aufnehmen. Wie ein Glas Wasser, das dann einfach nur noch überläuft.
Bei solchen Gelegenheiten passieren mir auch immer doofe Dinge. Ich lasse viel fallen, stoße mich andauernd irgendwo, bin mit den Gedanken nicht bei mir und dem, was ich tue. Ich lasse den Herd an oder rupfe bei der Gartenarbeit plötzlich die Blumen statt des Unkrauts heraus. Aber so sensibel kann ich eigentlich gar nicht sein, fällt mir gerade ein.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Sarah zog die Augenbrauen in die Höhe. Ihr Blick ruhte fragend auf mir und sie lächelte amüsiert.
„Ich behandle Menschen oft nicht besonders sensibel und gehe über ihre Bedürfnisse hinweg oder werde extrem ungeduldig mit ihnen. Dann bügle ich einfach verbal über sie herüber und wimmle sie und ihre Anliegen möglichst schnell ab. Das ist in meinem Beruf als IT-Supporter gar nicht förderlich. Da bin ich doch eigentlich gefordert, die Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen.
Manchmal raste ich sogar aus, zum Glück meistens privat. Dann schimpfe ich mit den Menschen, die gerade da sind und nicht das tun, was ich in dem Moment will. Ich werde laut und habe das Gefühl, ich explodiere gleich. Meistens kann ich die totale Eskalation vermeiden. Allerdings hat mein Verhalten auch schon zu Verlust von Freundschaften oder echten Krisen innerhalb der Familie geführt. Einmal herrschte nach einem solchen Ereignis sogar zwei Monate Funkstille zwischen mir und meinen Eltern.“
„Das sind alles Folgen der Überreizung, wenn du nicht gut genug auf dich und deine Grenzen achtest. Für Hochsensible ist es besonders wichtig, die eigenen Grenzen zu erforschen und zu erkennen, wo sie sich am wohlsten fühlen. Das betrifft die Grenzen zwischen dir und anderen Menschen genauso, wie deine eigenen Grenzen in dir, also die Selbstbegrenzung. Du solltest auf dein Gefühl hören, wenn du Ruhe benötigst und dich in solchen Fällen nicht dazu überreden, weiter in Aktion zu bleiben. Das tun wir oft, weil wir nichts verpassen oder nicht als schwach, faul oder ausdauerlos dastehen wollen.
Ich schwanke oft zwischen der Entscheidung, ob ich nach der Arbeit noch mit den Kolleginnen ausgehen oder etwas Tolles mit meiner Tochter unternehmen soll. Einerseits möchte ich mich ausruhen, andererseits mit den anderen mithalten. Für uns ist es sowieso eine große Herausforderung, so sein zu wollen, wie alle anderen. Wir wollen ‚normal‘ sein.
Obwohl es sowas wie Normalität gar nicht gibt, denn jeder Mensch besitzt seine eigene Mischung aus unterschiedlichsten Begabungen, Bedürfnissen und Herausforderungen im Leben. Uns wird nur suggeriert, wir wären alle gleich, damit Konsum und Marketing besser an mehr Menschen als Zielgruppen gerichtet werden können. Früher war es den Menschen viel bewusster, wie unterschiedlich sie waren. Heute wissen wir es theoretisch, kapieren und fühlen es aber erst wirklich, wenn wir besondere Bedürfnisse entwickeln, die sich total von der Masse abheben. Das ist zum Beispiel jedem Veganer, Diabetiker, Allergiker und Mensch mit chronischer Krankheit oder körperlicher und geistiger Besonderheit sonnenklar.“
„Ja stimmt, seitdem ich weiß, dass ich hochintelligent bin, ist mir erst klar, warum so viele Menschen mich nicht verstanden haben. Vorher dachte ich immer, ich wäre zu doof, mich klar auszudrücken. Aber es lag einfach daran, dass ich mich für Dinge interessierte, die andere nicht spannend fanden und in der Kommunikation viele Fremdworte und weniger allgemein bekannte Ausdrücke benutzte, weil sie in den Büchern und Medien vorkamen, die ich konsumierte.
Da ich bis heute in einem Umfeld lebe, in denen kaum Menschen studiert haben, falle ich total aus dem Rahmen. Ich dachte immer, alle wären so wie ich. Es hat lange gedauert, bis ich wirklich verstanden habe, dass sie teilweise so komplett anders funktionieren, als stammen sie von einem andern Planeten.“
„Genau das ist eine weitere Herausforderung, der viele Hochsensible gegenüberstehen. Wir denken, alle Menschen funktionieren wie wir. Mir hat einmal ein guter Freund vehement klar gemacht, dass er anders ist, als ich. Ich hatte felsenfest geglaubt, dass ich ihn supergut kennen würde. Als er mit einem für ihn riesigen Problem zu mir kam und mir sein Herz ausschüttete, dachte ich, ich hätte die Patentlösung für ihn. Ich wollte ihn um jeden Preis überzeugen, dass er aus der Misere gelangt, wenn er genau das tut, was ich ihm sage.
Er versuchte mir zu erklären, dass er weder den notwendigen Grad an Empathie besaß, noch sonst eine meiner Fähigkeiten, die zur Lösung des Problems auf meine Weise erforderlich wären. Da versuchte ich ihn zu überzeugen, dass er sich nur mehr anstrengen müsse. Das Ende vom Lied: Er sprang wütend von meinem Sofa auf und schrie mich an, dass er nicht so sei wie ich und dass ich das endlich mal kapieren solle.“
„Das war sicher ziemlich ernüchternd“, sagte ich, bei der Vorstellung schmunzelnd. Ich kannte Sarah nur als extrem einfühlsame Frau, die ausschließlich gewaltfrei und sehr umsichtig kommunizierte. Sie hatte immer gute Ideen und ging dabei auf die Eigenheiten und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen ein.
„Es hätte mich fast die längste und beste Freundschaft gekostet, die ich je hatte“, antwortete sie aufgebracht von der Erinnerung und nahm noch eine Schluck Kaffee.
Hier in der Hälfte vielleicht das Break?
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass mich irgendetwas auf einem Kurs hält, den ich eigentlich verlassen will. Also ich habe erkannt, dass die Richtung eines Gesprächs oder meiner Handlungen nicht so verläuft, wie ich gewollt hätte, aber ich kann nichts am Verlauf ändern. Es fühlt sich an, als sei ich ein Zug auf Schienen, der warten muss, bis eine Weiche kommt, um auf ein anderes Gleis zu wechseln. Gehört das auch zur Hochsensibilität?“
„Wie meinst du das genau?“, fragte Sarah nach und nippte wieder an ihrem Kaffee.
„Wenn bei einer Diskussion auf einmal meine Worte anders ankommen, als ich gedacht hätte und ich mit meinem Gesprächspartner in Streit oder Uneinigkeit gelange, dann schaffe ich es zunächst nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein Missverständnis handelt und ich mich für ihn missverständlich ausgedrückt habe.
Stattdessen folge ich dem Verlauf des Streits und kann erst später klarstellen, dass ich eigentlich etwas ganz anderes gemeint hatte. Das macht mich und meine Aussage dann manchmal bei Menschen unglaubwürdig, die mich nicht so gut kennen.
Oder ich stelle mir ein bevorstehendes Ereignis auf eine bestimmte Art und Weise vor und wenn es dann nicht so verläuft, bin ich irritiert oder auch enttäuscht. Manchmal werde ich darüber auch traurig oder wütend, obwohl ja niemand etwas dafür kann.
Ich schaffe es nicht, meine Gedanken in der Zeit umzustellen und die Erwartungen loszuwerden, bevor die Situation vorbei ist. Meist bin ich danach böse auf mich selbst, dass ich das wieder nicht geschafft habe. Es fühlt sich eben an, als wäre ich ein Zug, der auf die nächste Weichenstation warten muss, um seine Richtung zu ändern. Trotzdem bin ich auch oft spontan und komplett ohne Erwartungen und reagiere in Gesprächen schnell auf die Emotionen und Reaktionen von anderen.“
Sarah nickte bedächtig und stellte die Tasse ab. „Das sind autistische Züge. Viele Menschen haben ein oder zwei davon – auch Normalsensible und Nicht-Autisten. Hochsensible und Autisten teilen sich einige Eigenschaften. Wir haben leichte bis mittlere Züge, um mal deinen Vergleich mit den Schienen zu strapazieren. Allerdings sind wir auch spontan und offener nach außen. Obwohl geschätzt 70% aller Hochsensiblen eher introvertiert sind und nur 30% extrovertiert.
Das sind häufig Künstler und Wissenschaftler, die das Rampenlicht suchen. Aber zurück zu den autistischen Zügen. Ich kenne das gut. Wenn ich mir etwas zu sehr vorstelle oder in den Kopf gesetzt habe, fällt es mir schwer, davon wieder abzurücken. Da ist dann die Selbstbegrenzung wichtig. Sich klar zu machen, dass es nicht schlimm ist, wenn das Leben passiert und alles anders läuft, als in meiner Vorstellung oder in meinem Zeitplan.
Perfektionismus ist den meisten Hochsensiblen auch zu eigen. Wir versuchen, alles ganz ordentlich und besser zu machen, als wir es eigentlich können. Das kostet Unmengen an Energie, je mehr wir auf die Perfektion hinarbeiten. Erreichbar ist die sowieso nicht. Bei allem, was du tust reichen zwei Drittel dessen aus, was du dir vorgenommen hast, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Die meisten anderen Menschen sind keine Perfektionisten und erwarten viel weniger von sich und ihren Mitmenschen. Hier hilft es, sich klar zu machen, dass ein Ergebnis mit 60-70 Prozent des Vorgenommenen nur 20% des Aufwands und Energieeinsatzes erfordert. Bei 80% Erfolgserwartung steigt der Einsatz bereits auf 50%. Willst du über 90% erreichen, verlangt es dir schon mehr Energie ab, als du allein besitzt. So sagt es jedenfalls das Pareto-Prinzip. Sich selbst unter Druck zu setzen, möglichst perfekt zu arbeiten, erzeugt auch wieder eine Überforderung.“
„Meine Güte, was du nicht alles zu dem Thema weißt“, sagte ich ehrlich erstaunt und beeindruckt.
„Alle Lebewesen – auch Tiere – sind absolut abhängig von ihren Sinnen und den Eindrücken, die diese uns liefern. Außerdem hängt unser Weltbild und Selbstbild stark davon ab, wie unsere Gehirne die eintreffenden Informationen verarbeiten.
Es gibt viele verschiedene Arten, wie das geschieht. Die Forschungen der Naturwissenschaft hierzu stecken noch in den Kinderschuhen. Psychologen und andere Geisteswissenschaftler sind durch praktische Tests und Erfahrungen mit Therapien schon ein wenig weiter.
Es deutet sich an, dass jede Menge unterschiedlicher Verarbeitungsweisen im menschlichen Gehirn existieren. Die verschiedenen Areale sind bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt und miteinander vernetzt, sagte mein Ausbilder einmal. Und jeder bewertet die Informationen seiner Sinneswahrnehmungen noch dazu anders. Die Neuronenpfade verknüpfen sich am liebsten in die Richtung weiter, die sie bereits kennen.“
„Du meinst, dass man lieber das tut, was man kann und so bewertet, wie man es gelernt hat und gewohnt ist?“
„Ja genau. So in etwa. Das bedeutet für Hochsensible auch, dass sie sich gar nicht so sehr von allen anderen unterscheiden. Außerdem erfüllen wir einen wichtigen Zweck in der Gemeinschaft.“
„Welchen denn?“
„Man geht davon aus, dass wir – evolutionär gesehen – die Nachfahren der Nachtwächter, Erkunder und Heiler waren. Die empathischen Hochsensiblen haben sich wohl schon vor Zehntausenden von Jahren in der afrikanischen Savanne um die Kranken und Verletzten und um das geistige Wohlbefinden der Stammesmitglieder gekümmert. Die Hochsensiblen mit den besonders guten Augen und Ohren haben nachts Wache gehalten oder bei der Jagd die Vorhut gebildet und die Umgebung ausgekundschaftet.
Und die mit dem super Geruchs- und Tastsinn – der ja auch das Gefühl auf der Haut umfasst – haben Wasserstellen und Lebensmittel gefunden und vor Unwettern gewarnt, weil sie die Veränderungen im Luftdruck und den Geruch nach Schwefel und andere Düfte wahrgenommen haben, die Regen, Sturm und Gewitter vorausgehen.“
„Meine Güte, ist das Thema komplex“, entfuhr es mir. „Wer kann sowas denn ahnen?“
„Deswegen ist es für jeden Hochsensiblen wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Mein Leben hat es enorm erleichtert, seitdem ich mich besser verstehe. Ich halte mich meistens an meine Bedürfnisse und Grenzen und habe sogar gelernt, sie gegenüber anderen selbstbewusst zu äußern und durchzusetzen, falls notwendig. Seitdem sind viele meiner früheren Probleme und Herausforderungen gar nicht mehr existent und ich habe mindestens zehnmal so viel Energie wie früher.”
So in etwa verlief mein erstes Gespräch über die Hochsensibilität vor etlichen Jahren. Danach habe ich mich intensiv mit allen möglichen Aspekten beschäftigt, viel gelesen und ausprobiert. Ich suchte den Austausch mit anderen Hochsensiblen in einer tollen Gruppe und sammelte die Informationen in einem Blog.
Dazu kamen einige Tipps für förderliche Verhaltensweisen und einfache Leitlinien, an denen sich jeder orientieren kann. Irgendwann kamen Menschen auf mich zu und wünschten sich eine geordnete Struktur in den Blogbeiträgen. Da entschloss ich mich, ein Buch daraus zu erstellen. Als ich fertig war, veröffentlichte ich dieses auf einer eigenen Website. (http://www.achstam-zum-urvertrauen.de)
Hier kann jeder ohne Einschränkungen nachlesen, was es an Grundlagen zum Thema zu wissen gibt. Sogar ein PDF und die beiden herkömmlichen E-Book-Formate stehen zum Download bereit, ohne dass Mailadressen oder andere Daten abgefragt werden.
Mir war aufgefallen, dass im Internet kaum eine zusammenhängende Quelle existiert, die sich des Themas umfassend annimmt. Da ich eine Menge Hochsensible kenne, die sich so stark gefordert und überreizt haben, dass sie aus der Leistungsgesellschaft herausgepurzelt sind und sich Fachbücher einfach nicht leisten können, war und ist es mir wichtig, die Informationen für alle kostenlos und möglichst barrierefrei – auch für Menschen mit Behinderungen – anzubieten.
Wer meine Arbeit honorieren und mich finanziell unterstützen will, kauft das Taschenbuch. Natürlich berate ich Sie gerne und halte auch Vorträge und Workshops ab – am liebsten per Skype, Hangout oder Zoom und per Webinar. Fragen Sie einfach per Mail an.
Nun kommen wir zur Frage in der Überschrift. Als ich von Sarah darauf hingewiesen wurde, dass ich hochsensibel bin, handelte es sich um ein Thema, das gerade in den Medien auftauchte. Meist noch abseits des Mainstreams. Ich war die Jahre danach Teil einer größeren Gruppe Hochsensibler, die sich monatlich zum Erfahrungsaustausch traf.
Bei einem dieser Zusammenkünfte hielt ein Teilnehmer einen Zeitungsartikel in die Höhe und fragte: „Ja sind denn auf einmal alle hochsensibel, oder was?“ Er echauffierte sich darüber, dass es nun wohl eine neue Modeerscheinung werden würde, hochsensibel sein zu wollen. „Auf mich kommen immer mehr Leute zu, die sagen, sie seien hochsensibel. Das ist ja so wie damals mit den AD(H)S-lern“, sagte er.
„Moment“, schritt ich ein, bevor er sich noch mehr ereifern konnte. „Du weißt doch, dass zirka 15-20 Prozent im Mensch- und Tierreich hochsensibel sind, oder? Zumindest sagen das die Verhaltensforscher.“
Er nickte. „Ja und?“
„Nordfriesland allein hat zirka 165.000 Einwohner. Davon sollten 24.750 bis 33.000 Menschen hochsensibel sein.“ Ich schaute mich demonstrativ im Raum um, in dem 25 Menschen um ein paar Tische herum saßen. „Wo bitte sind die denn alle?“
Da Hochsensibilität die Wahrnehmung sehr vieler Menschen betrifft, ist es ein Thema, das dringend in die Öffentlichkeit gehört. Bisher begegne ich immer noch Menschen, die es für Humbug, Einbildung oder den Drang halten, jemand Besonderes oder besser sein zu wollen, als andere.
Ärzte kennen den Ausdruck noch nicht einmal und wissen nicht, dass Hochsensible meist mit den verschriebenen Medikamentendosen vollkommen überfordert sind, da ihr Metabolismus schon intensiv auf kleinere Mengen anspringt – etwa ein Viertel bis die Hälfte der Dosis.
Arbeitgeber kennen die Vorteile, die es bedeutet, einen Autisten zu beschäftigen. Aber sie kennen nicht den ungeheuren Mehrwert, den ein Hochsensibler ihnen einbringt. Die meisten Hochsensiblen sind sehr empathisch veranlagt und wirken neben ihrer eigentlichen Arbeit auch noch auf sozialer, psychologischer oder spiritueller Ebene. So verbessern sie den Zusammenhalt und die Motivation in der Firma, wenn man sie denn lässt.
Viele Hochsensible eignen sich sehr gut als Teamleiter oder Vorgesetzte, da sie immer den Überblick über die Arbeitsprozesse und Sachstände behalten und dabei ihre Mitarbeiter nicht aus den Augen verlieren. Manche Hochsensible erledigen die Arbeit von zwei Mitarbeitern, was gut ist, so lange sie aufpassen, dass sie sich damit nicht überfordern. Natürlich gilt es auch die negativen Seiten zu beachten.
Häufig sind wir anfälliger für Allergien und Unverträglichkeiten mit den überverarbeiteten Lebensmitteln der Fast Food- und Fertignahrungsindustrie. Hochsensible haben oft das Gefühl, anders zu sein und fühlen sich ausgegrenzt oder kommen mit den an sie gestellten Erwartungen der Leistungsgesellschaft und mit der Reizüberflutung durch das Überangebot an Medien nicht zurecht.
Das alles gestaltet diese besondere Ansammlung von Wesensarten und Bedürfnissen für Betroffene und jeden in ihrer Umgebung zu einer Herausforderung.
Informieren Sie sich am besten darüber, denn jeder 5. bis 6. Mensch in Ihrer Umgebung ist hochsensibel. Auf meiner Website http://www.achtsam-zum-urvertrauen.de finden Sie einen Überblick über und einen Einstieg in das Thema.
Über Markus Walz: Der hochsensible Autor Markus Walz lebt seit einigen Jahren in einem beschaulichen Vorort des Holländerstädtchens Friedrichstadt an der Westküste Schleswig-Holsteins. Neben einigen Romanen veröffentlichte er 2016 den Ratgeber „Mit Achtsamkeit zum Urvertrauen – Hochsensibel durch den Alltag“, der bereits über 30.000 Mal online abgerufen wurde. Sie können den Autor für Vorträge, Workshops und Seminare (on- und offline) zu den Themen Hochsensibilität, Storytelling und Spiritualität buchen.
Telefon +49 (0) 4881 286 99 71
Mobil +49 (0) 160 59 220 53
Mail: [email protected]
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