Brief an mein inneres Kind: Du und ich und unser Kinderglauben an Jesus und die Bibel

Zum Ende dieses Jahres habe ich mich meiner kleinen inneren Eva-Maria angenähert, habe täglich aufgeschrieben, wie ich als Kind die Welt sah. Was ich gefühlt habe, was ich bewundert habe, was ich fürchtete. Als Kind der Deutschen, die Bürger im Nationalsozialismus waren, haben mich stets Schuldgefühle begleitet, die ich mit meinem kindlichen Glauben an Gott und Jesus verband. Ich wollte so gern ein besserer Mensch sein, wollte so gern, dass ich Juden versteckt hätte oder politischen Widerstand geleistet hätte.

Nun habe ich, angeregt durch ein wunderbares Gespräch mit einem Ehepaar, das ich für ihre Art zu leben, bewundere, meinen Kinderglauben an die Bibel und an Jesus (für mich und viele andere „Nachgeborenen“ das Sinnbild für alle gequälten Juden) mit meinem Erwachsenenwissen zusammengebracht. Und ich habe frühmorgens am 31.12.24 folgenden Brief an die kleine Eva-Maria geschrieben:

Bild von Jeff Jacobs auf Pixabay

Liebe kleine Eva-Maria,

ich kann Dich so gut verstehen in Deiner wilden Widerspenstigkeit gegenüber der historischen Erforschung und Einordnung des christlichen und monotheistischen Glaubens. Die Vorstellung, dass viele Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus über viele Jahrhunderte Kapitel zur Bibel geschrieben, verändert, übersetzt und immer mal wieder neu zusammengefügt haben, ist so etwas wie die Zerstörung des Wahrheitsanspruchs, die Bibel sei „das Wort Gottes“.

Betrachtet man die Bibel in den verschiedenen Übersetzungen mit rationalem Blick, ist sie eher ein Buch mit vielen philosophischen Essays unter der Prämisse, dass es einen Gott gibt, der über allem steht. Und dass dieser Gott Jesus Christus (frei von Sünde und Anhaftungen) in die Welt geschickt hat, um eine radikale Erneuerung des alttestamentarischen Glaubens zu ermöglichen.

Vom „Auge um Auge“ zur bedingungslosen Nächstenliebe, die sich im Handeln ausdrückt: Den Armen beistehen und die Herrschenden anklagen.

So ist ein Christ jemand, der zum einen im Inneren Dialog mit Jesus steht und zum anderen für die Aufrichtung der Armen und Verstoßenen eintritt. Mit Caritas und politischen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit.

Das alles kannst Du sicher noch mittragen, kleine Eva-Maria, wenn es auch traurig ist, sich von dem geliebten Kinderglauben an die Bibel zu verabschieden.

Was jedoch bleibt, ist die berechtigte Frage, was passiert, wenn man sich als Christ nicht karitativ und politisch für die Armen und Ausgestoßenen einsetzt.

Zusammengefasst aus Sicht der Generation, die zu den „Nachgeborenen“ des Nationalsozialismus gehört:

Welche Konsequenzen hat ein selbstverliebtes Leben, das achtlos vorbeigeht an inhaftierten, leidenden, dem langsamen oder schnellen Tod überlassenen Juden?

Das ist, war und bleibt Deine Frage.  Das ist, war und bleibt meine Frage. Das ist der Schatten, der uns stets begleitet, nicht wahr?

Bertolt Brecht hat es mal schön auf den Punkt gebracht:

Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe.
Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde.
Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen.
Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden:
Du brauchst einen Gott.“

Da sich mein Verhalten nicht geändert hat und ich meine 65-dreiviertel Jahre trotz aller Bemühungen nicht nutzen konnte, um ein besserer Mensch zu werden, müsste ich nun womöglich rekapitulieren
„Ich brauche keinen Gott“.

Wie schrecklich das wäre! Und doch sehe ich ein, dass die strengen Anforderungen von Jesus an seine Jünger (die in meiner Wahrnehmung von prominenten Christen allein Eugen Drewermann einhalten kann) nicht durch pädagogische Bedrohungen herbeizuführen sind.

Je mehr ich Doktor Jekyll füttere, desto fetter wird Mister Hyde

Was also tun?

Lasse jeden so gelten, wie er ist. Nur so kommst Du zu der gleichmütigen Ruhe, Dich selbst gelten zu lassen, so wie Du bist.

Nichts konnte mich verbessern, alles war vergeblich. Ich blieb, wie ich bin. Wie es in dem (philosophisch mystischen) Buch Kohelet in der Übersetzung vom guten alten höllefürchtenden Luther heißt:

8Alles Reden ist so voll Mühe, dass niemand damit zu Ende kommt. Das Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt. 9Was geschehen ist, ebendas wird hernach sein. Was man getan hat, ebendas tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne

Ich stelle mir vor, wie Luther diese Worte empfunden hat beim Studieren und Übersetzen. Auf der einen Seite ist es tröstlich, auf der anderen Seite deprimierend. Alles vergeblich!

Liebe kleine Eva-Maria, ich bleibe Dir treu – gegen alle Vernunft und trotz aller Vergeblichkeit – in Deinem Glauben an Schuld und Auftrag. Würde ich mich verabschieden von der Verpflichtung, mich den Armen aus Mitleid und Gerechtigkeitssinn zuwenden zu sollen, würde ich meine leidenschaftliche Liebe zu Jesus verlieren, dann würde die kleine Nonne wahrlich Schluss machen mit ihm – Schluss manchen mit einem personifizierten Gottesbild.

Ich brauche Gott

Ja, mein Glaube bewirkt trotz meiner Unfähigkeit eine Verhaltensänderung, die mir heilig ist. Meine ständigen Schuld- und Versagensvorwürfe sind nicht nur lächerlich, sie sind auch poetisch, kindlich, „überirdisch“. Sie sind der Quell meiner Schreibsucht, meiner Inspirationen, meiner Art, mit Menschen zu sprechen, meiner Wahrnehmung des Unsichtbaren hinter der „Steinernen Welt“.

Ich liebe meine Schuldgefühle, die mich mahnen, trösten und führen, die mich mutig machen und die mir den Zauber der Vergebung und der Liebesfähigkeit (lasse jeden gelten wie Dich selbst) verleihen, der mich anscheinend auch für Fremde oft anziehend macht, wenn sie mich ansprechen – was mich riesig freut.

Meine Schuldgefühle lassen mich einatmen, meine glückselige Ausstrahlung ist mein Ausatmen

Meine Stunden in Einsamkeit verleihen mir die Lebendigkeit, meine Schuld und mein Versagen zu betrachten. Mein Leben unter Menschen gibt mir das Glück, sie alle so lieb, so süß, so schön finden zu können, ohne dass ich ihnen ein dauerhafter Begleiter sein muss (was mich binden würde, und Bindung ist für mich schlimm). Mein Herz jubelt und tanzt, wenn ich unter Menschen bin.

Heute ist es nicht mehr so, dass ich nur die Armen gelten lasse und die Reichen verachte. Heute ist einer für mich wie der andere. Das habe ich in den letzten vier Jahren (seit ich mit den Armen arbeite) gelernt. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Die süßesten Früchte essen nur die großen Tiere? – Es ist OK!

Mein Gottesglaube hat sich im Alter mehr hin zum „Alten“ gewandt, zu dem Bild Gottes, das das Buch Hiob vermittelt (als mystische Erzählung eines philosophisch Sehenden). Der Gott, der nicht mit menschlichen Moralvorstellungen zu verstehen ist – der einfach nur groooooooß ist.
Das tut mir gut. Der nicht gerecht ist, sondern einfach nur unfassbar mächtig.

Kohelet und Hiob trösten mich und lassen mich lachen, wenn ich sie lese. Die Guten haben kein Recht auf Belohnung, und die Bösen sind genauso OK wie die Guten. Lasse alle gelten und höre auf, Gott menschliche Eigenschaften zuweisen zu wollen.

Mache Dir kein Bild von Gott. Punkt

Jesus ist mein Idol, mein Ernesto Che Guevara und mein Eugen Drewermann, mein Krieger und mein mystischer Philosoph. Mein wütender Kämpfer für die Armen und mein traurig Verzweifelter im Angesicht des Leides durch Krieg, Ausbeutung und Macht.

Den Einen hängte ich als Poster an meine Kinderzimmertapete und die Bücher des Anderen las ich in der Pubertät voller Bewunderung und Hingabe. Eine andere Eva-Maria wurde ich dadurch nicht.

Ich esse Fleisch aus Massentierhaltung und ich gehe an den Bettlern vorbei, ohne ihnen Geld geben zu wollen. Meine eingesparte Kirchensteuer spende ich an Einrichtungen in Dortmund, die sich um Obdachlose kümmern, aber ich habe keine Lust, mich als „böser wohlgenährter Bürger“ betrachten zu lassen. Und hätte ich eine Geldbörse, die sich immer wieder von allein füllt, ich würde nichts geben, einfach weil ich die Rolle nicht mag.

Nein, ich fühle keine Verpflichtung, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass es mir so gutgeht. Ich lasse jeden gelten, wie er ist, ohne zu urteilen – aber ich weigere mich, mich in die Rolle der melkbaren Kuh zu begeben.

Vielleicht werde ich, wenn ich nicht mehr arbeiten kann, den Armen beim Gasthaus ehrenamtlich Butterbrote schmieren. Das würde mir Spaß machen. Dann habe ich Kontakte und lerne viel.

Jesus hängt gekreuzigt um meinen Hals und erinnert mich stets daran, dass ich seinen Ansprüchen an Caritas und politischem Widerstand nicht genüge. Ich war, bin und bleibe der reiche Jüngling, der nicht bereit war, alles zu verschenken. Das war die Bedingung, die Jesus stellte, um ihm nachfolgen zu dürfen. Und dass ich so bin, ist OK so. Ich mag mich, genauso, wie ich bin.










Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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