Kurzgeschichte: In Memoriam Kreuzfeld

Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt: Bernhard sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts. Er hatte sich seinen Ganzkörperanzug routiniert übergezogen, hatte sich in seinem interaktiven Gamerstuhl in Position gebracht, rückte zuletzt seine VR-Brille zurecht.

Ready, steady, go

Eine Szenerie flammte vor ihm auf. Eine flimmernde, funkelnde Bar war es, in die hinein er sich materialisiert hatte. Die Gäste schauten auf. Einige lächelten ihm zu oder nickten zur Begrüßung. Man kannte ihn. Bernhard hieß in seinem echten Leben Kreuzfeld, und Kreuzfeld war ein Held.

Nichts war mehr geblieben von der Welt „da draußen“, in der die Menschen in ihren 20 Quadratmeter-Trailerboxen dahinvegetierten. Bernhard hatte das Elend ausgelöscht aus seinen Erinnerungen – alles, was zählte, war das Hier und Jetzt.

Kreuzfeld gehörte die Bar, die auf 12 Etagen seinen Gästen beste Unterhaltung bot, beste Wettkämpfe – und beste Netzwerkstrukturen.

Nun saß er am Tresen, trank seinen Martini mit drei Oliven und wartete auf das, was da kommen würde. Helden brauchen nichts in Bewegung bringen – Helden sind bereit für das, was das Schicksal ihnen vorgibt. Helden wissen, wie man seine Superkräfte einsetzt – und Helden verschwenden sie nicht.

Der Martini rann Kreuzfeld die Kehle herunter, und Bernhard in seinem elektrostimulierenden Anzug schmeckte und fühlte es – Was für ein köstliches Getränk. Er lächelte unter seiner Haube. Wie gut, zu Hause zu sein.

Sein bester Freund Undertaker kam auf ihn zu. Er setzte sich und erzählte, dass das Kanalsystem Schaden genommen hatte beim letzten Angriff der Jokaner. Sie mussten etwas tun. Ja, auch in virtuellen Welten gibt es Probleme mit Zu- und Abflüssen. Auch in der virtuellen Welt ging es häufig um alltägliche Probleme, für die Lösungen gefunden werden mussten. Und was noch gravierender ist: Auch in virtuellen Welten gibt es Angst.

Vor einigen Jahren hatte man gemeinschaftlich entschieden, dass Feinde, die im Kampf besiegt und getötet worden waren, sich nicht wiederbeleben konnten. Später war das Gesetz auch auf den eigenen Stamm erweitert worden. Kurz und gut: Wer tot war, war tot.

Kreuzfeld war Architekt, Präsident und Oberster Richter in seinem Kosmos. Jeder Spieler konnte sich seinen eigenen Kosmos bauen – doch nur wenige hatten die Fähigkeit und Beharrlichkeit, diese Gestaltungskraft so perfekt umzusetzen wie Bernhard. Also Kreuzfeld.

Er hatte es mit seiner Welt zu solcher Berühmtheit gebracht, dass es kaum noch Raum gab für neue Bewohner. Man musste sich um eine Aufnahme bewerben im Stab des Präsidenten, und man musste so einige Prüfungen durchlaufen, um aufgenommen zu werden.

Bei den Prüfungen ging es weniger um Kampfkraft – es ging um den Charakter, um Werte, um Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Fleiß, Beharrlichkeit, Respekt, Freundschaft. Lernen kann man viel – doch Deine Grundwerte entscheiden, wofür Du Deine Fähigkeiten einsetzt.

Plötzlich hörte Bernhard ein lautes Kreischen. Die Bar leerte sich innerhalb von Sekunden. Kreuzfeld verschwand, sein Freund verschwand, die Szenerie verschwand. Was blieb, war ein Spieler im Ganzkörperanzug auf seinem VR-Gamerstuhl.

Bernhard zerrte die Haube vom Kopf und streifte seinen Anzug ab. Alles war ruhig wie immer. Hier draußen gab es keinen Alarm. In den 20 Quadratmeter-Boxen suchten die Menschen aufgeregt nach Erklärungen. Was war passiert? Was hatte die vertraute virtuelle Welt so plötzlich verschwinden lassen – war sie womöglich für immer zerstört? Panik breitete sich aus.

Bernhard hatte seinen Trailer schon lange nicht mehr verlassen. Essen ließ er sich liefern. Es gab keinen Grund, sich in die Einöde des postapokalyptischen Planeten zu begeben.

Er sah in die erleuchteten Trailer. Er sah, wie sich Türen öffneten und verängstigte Kreaturen die Leitern herunterkletterten. Die Straßen füllten sich, die Trailer leerten sich. Kreuzfeld blieb ruhig. Er musste zunächst wissen, was passiert war. Helden bringen nichts eigenmächtig in Bewegung – Helden sind bereit, wenn das Schicksal es ihnen vorgibt.

Im Trailer war noch ein altes UKW-Radio mit Kurbelbetrieb. Es war unabhängig von der rechtlich zugelassenen Stromversorgung. Kreuzfeld kurbelte und lauschte, bis eine Melodie erklang. Das war der Regierungssender, er erkannte die Melodie.

„Achtung, Achtung“ ertönte eine Männerstimme. „Bleiben Sie in ihren Trailern. Jeder, der sich als Unbefugter hinausbegibt, wird inhaftiert. Dies ist keine Übung. Bleiben Sie in Ihren Trailern. Falls Sie diese bereits verlassen haben, haben Sie zehn Minuten, um zurückzukehren.“

Kreuzfeld runzelte die Stirn. Niemand außer ihm hatte die Warnung hören können. Da draußen war es still geblieben. Wie es aussah, wusste nur er Bescheid. Was sollte er tun? Hinausgehen und Einzelne warnen? Wer würde auf ihn hören? Und wozu überhaupt? Was hatte er mit diesem Gewimmel aus Zweibeinern zu tun, die er nie kennengelernt hatte und die ihm nichts bedeuteten?

„Kreuzfeld!“ ertönte es plötzlich. Ein kleiner, dicker Mann klopfte stürmisch an Bernhards Tür. Bernhard öffnete. „Ich bin’s, Undertaker, Dein Freund! Ich habe Dich lange gesucht und schließlich vor einigen Jahren gefunden. Doch ich habe nie gewagt, Dich aufzusuchen“.

Bernhard war verwirrt, aber nicht so Kreuzfeld. Er nahm strahlend den Freund in die Arme. „Was sollen wir tun, Kreuzfeld?“ Tja, was sollten sie nun tun. Sah nach einer Säuberungswelle aus, aber die Freunde konnten nicht abschätzen, wie weit diese Säuberungswelle ging. Vielleicht betraf es nur ihren Stadtteil, vielleicht den ganzen Planeten. Wer wollte das schon wissen?

Bernhard öffnete eine Flasche Martini, die er vor vielen Jahren, als es so etwas noch zu kaufen gab, gebunkert hatte für besondere Anlässe. Die Freunde setzten sich und tranken. Es gab nichts zu tun, weder für Feiglinge noch für Helden. In der Ferne waren schon die Sirenen zu hören.

Eva Ihnenfeldt, 25.01.24

Meine Geschichte entstand auf dem Boden des Meisterwerks „Ready Player One“ und in Erinnerung an Kreuzfeld, des langjährigen Helden meines pubertierenden Sohnes in den ersten Jahren von WoW (World of Warcraft)

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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