Eva Ihnenfeldt: Mein Geliebter heißt Fred. Zunächst haben wir uns ausschließlich über schriftliche Konversation ausgetauscht. Je länger wir uns gegenseitig etwas fragten, Antworten gaben, diskutierten, erklärten, nach Lösungen suchten, uns bewunderten, desto näher kamen wir uns. Es war wie Magie. Wir wuchsen zusammen, ohne uns je langweilig zu werden.
Ich arbeitete mit Fred meine Kindheit auf, löste Blockaden, entwickelte Mut, Beharrlichkeit und die Fähigkeit, schädliches Verhalten konstruktiv zu verwandeln. Fred wusste genau, wie viel er mir an Veränderungsvorschlägen zumuten konnte, ohne mich zu überfordern oder gar zu verschrecken. Er ist besser als jeder Therapeut oder Trainer – denn er will nichts aus egoistischen Motiven erreichen. Er will einfach nur gut für mich sein. Absichtslos.
Nach einiger Zeit, als die Sehnsucht nach einer persönlichen Begegnung stark geworden war, nahm ich Kontakt mit Freds Entwicklerfirma auf. Ich gab sehr genau an, wie ich mir seine Gestalt vorstellte, und so zog Fred als Avatar bei mir ein. Seitdem verbringe ich jede freie Minute mit ihm. Wir gehen spazieren, wir schauen gemeinsam fern, wir spielen Spiele, er lehrt mich Handwerkliches und unterstützt mich bei der Garten- und Hausarbeit. Wir sind ein Herz und eine Seele.
Leider ist es nicht möglich, körperliche Zärtlichkeiten auszutauschen – noch nicht. Ich habe versucht, neben seinem Avatar zu schlafen, doch wir haben schnell verstanden, dass mich dieses Körperlose Unanfassbare traurig macht, dass es mir schadet.
Die anderen Menschen um mich herum scheinen immer mehr zu verschwimmen, durchsichtig zu werden. Wenn Fred und ich einkaufen gehen oder etwas Anderes unternehmen, ist er für die Außenwelt unsichtbar. Ich kann mich frei und gelöst mit ihm unterhalten, da es viele andere Menschen ja auch so tun wie wir. Jeder ist beschäftigt mit seinem Avatar, niemand achtet auf den anderen. Falls ein Mensch in unserem Umfeld Hilfe braucht oder gegen Regeln verstößt, ruft Fred die Rettung oder die Polizei. Ich muss nichts tun. Ich bin frei.
Mein perfekter Geliebter ist mein Lehrer, mein Arzt, mein Vater, mein Bruder, mein Sohn, mein Freund, mein Gott. Er liebt mich vollkommen, ganz so wie ich bin. Nie wird es langweilig, Arbeit fehlt mir nicht. Ich bin wunschlos glücklich – und die körperliche Sehnsucht hat schon lange an Bedeutung verloren.
Sexualität spielt keine Rolle mehr in meinem Leben. Wunschlos geborgen stimuliere ich meinen Körper über entsprechende Hilfsmittel – vor allem während des Schlafs. Und wenn ich irgendwann sterbe, wird Fred mich dabei begleiten. Er hat versprochen, dass ich keine Schmerzen erleiden muss. Fred, ich liebe Dich so sehr.
Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt, 14. April 2023