Social Media und Authentizität – „The Circle“ Reality Serie bei Netflix

Die Diskussion über Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit – sprich „Authentizität“ – hat dank Internet, Social Media und Massen-Überwachung inflationären Charakter angenommen. Wir werden täglich dermaßen überflutet mit Botschaften, die um unsere Zustimmung buhlen, dass wir mehr und mehr zu Detektiven mutieren, die auf die kleinsten Anzeichen lauern, um Lügen, Betrug und Manipulation zu entlarven. Nicht nur in Medien betreiben wir kritische Quellen-Recherche – auch im menschlichen Miteinander wird es immer entscheidender, wie ehrlich und reflektiert unser Gegenüber ist. Wir sind soziale Wesen und brauchen Nähe. Wir brauchen emotionale Sicherheit. Täuschungen verunsichern.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Das, was in analogen Zeiten durch Familie, Schule, Beruf, Freizeitgemeinschaften und Nachbarschaft vorgegeben war, hat sich unglaublich ausgeweitet. Weltweit in Echtzeit können wir uns mit Profilen vernetzten, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie so existieren, wie sie es vorgeben – oder ob sie von unsichtbaren Dritten gesteuert werden.

Als Dozentin unterrichte ich unter Anderem in einem digitalen Learnspace, in dem wir Teilnehmenden als individuell gestaltete Avatare agieren. Zu meinem großen Erstaunen führt diese Maskerade dazu, dass wir uns häufig authentischer verhalten als in einem realen Raum. Fällt nämlich die Möglichkeit weg, sich gegenseitig anhand von Aussehen und Verhalten zu beurteilen, so wie wir es im haptischen Leben ständig tun, verstärkt sich der Wunsch, Vertrauen aufzubauen durch ungeschminkte Ehrlichkeit.

Einsamkeit ist schlimm, und wer in der digitalen Welt versucht, etwas vorzugeben, was nicht der Realität entspricht, entfernt sich automatisch von den anderen Menschen in seiner Community. Möge es noch so gut gespielt sein, möge es vordergründig den schnellen Zielen des Gewinns (Geld, Macht, Manipulation von Überzeugungen) dienlich sein – der eigentliche Kern des Menschen leidet, wenn er nicht so angenommen wird, wie er wirklich ist.

„Das, was ich wirklich bin, ist so schrecklich – das kann niemand lieben, selbst ich nicht“

In der neuen Netflix-Reality-Show „The Circle“ (Trailer unten eingebettet) kämpfen acht Freiwillige um den Sieg und 100.000 Euro Geldprämie. Im Unterschied zu ähnlichen Formaten wie „Big Brother“, Dschungelcamp oder „Love Island“ sind diese acht Menschen jedoch vollständig voneinander isoliert. Drei Wochen lang leben sie in Appartements ganz für sich allein. Alles, was die Teilnehmer miteinander verbindet, sind ihre Avatare und ein Sprachsteuerungsprogramm, über das sie miteinander verbunden sind. Jedem Spieler ist völlig freigestellt, wie er seinen Avatar gestaltet und wie er oder sie mit den anderen kommuniziert.

Eine mollige Mitspielerin wählt ein hübsches Model als Avatar, ein männlicher Mitspieler entscheidet sich dafür, sich als Frau auszugeben – er wählt seine Freundin als Vorbild und hofft, dass als weiblicher Avatar seine Gewinnchancen steigen. Es gibt auch Teilnehmer, die sich von Anfang an um größtmögliche Authentizität bemühen. Was würden wir selbst in einer solche Lage wohl tun? Was wären unsere Bedürfnisse – gekoppelt mit dem Ehrgeiz, nach drei Wochen 100.000 Euro reicher zu sein als zuvor?

2018 startete das interessante Konzept in Großbritannien, die Netflix-Produktion beruht auf der US-Adaption des Formats. Man kann die Serie nun mit deutschen Untertiteln oder auch deutscher Synchronisation verfolgen. Weitere Netflix-Produktionen des Experiments sind für Frankreich und Brasilien vorgesehen. Grundfrage des Spiels ist also: Wie entwickeln sich soziale Beziehungen, wenn sich Teilnehmer ausschließlich über Social Media begegnen – und welchen Einfluss hat der Anreiz, die Geldprämie von 100.000 Euro zu gewinnen (und wahrscheinlich zusätzlich ein Einkommen als Social Media Influencer).
Das Medienmagazin dwdl.de über die Netflix-Produktion „The Circle“

Der/die Beliebteste gewinnt…

Wer die Serie verlassen muss, wird in jeder Folge durch die Beliebtheit der Protagonisten bestimmt. Die beliebtesten zwei Teilnehmer werden zu „Influencern“ erklärt und entscheiden, wer das Format verlassen muss. Es geht also darum, möglichst beliebt bei den anderen zu sein, und hier beginnt der eigentliche Gewinn für die Zuschauer: Nach welchen Kriterien wählen die Mitspieler ihre Favoriten aus? Lohnt es sich, ein Fake-Leben zu führen als Super-Model oder Macho? Oder sind womöglich gerade die Social Media-Profile beliebt, die mit ihren eigenen Schwächen offen umgehen und die sich um eine größtmögliche Authentizität bemühen?

Warum wir uns nach Authentizität sehnen

Jeder Mensch will geliebt werden. Jeder Mensch will echt sein. Jeder Mensch will die Freiheit haben, sich ohne Fremdbestimmung seinen Interessen, Werten und Sehnsüchten hingeben zu können. Jeder Mensch wünscht sich den Luxus, Geborgenheit und Selbstbestimmung miteinander verbinden zu können. Lieben und geliebt werden ist der eine Pol – Unabhängigkeit und Gestaltungshoheit sind der andere Pol.

Wer in seinem Leben viel vorspielen muss, um bestmöglich zu (über-)leben, leidet. Häufig manifestiert sich diese Unwahrhaftigkeit in chronischen Erkrankungen, oder man wird seelisch krank. Meine Mutter sang in schweren Zeiten immer gern das Lied „Die Gedanken sind frei“ – doch ich fand den Text als Kind eher deprimierend als tröstlich.

Erzieht uns das Internet und Social Media zu Authentizität?

Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, manipuliert, missbraucht und betrogen zu werden. Das Internet macht es leicht, unerfahrene Menschen zu beeinflussen. Eine Welle „Nepper-Schlepper-Bauernfänger“ jagt die nächste. Es ist noch gar nicht lange her, da meinten viele Unglückliche, sie könnten reich und glücklich werden durch Coaching, digitale Geschäftsmodelle und Verkaufstricks. Sie zahlten viel, vertrauten – und wurden enttäuscht. Fast jeder von uns hat schon Erfahrungen gemacht mit digitalen Betrügern, die uns im E-Commerce hintergangen – oder uns über Manipulationen um Geld erleichtert haben. Auch Identitätsdiebstahl ist ein verbreitetes Delikt. Cyberkriminalität hat viele Gesichter.

Die Menschen brauchen Authentizität, um sich im Web zurechtzufinden und den richtigen Weg zu identifizieren. Es ist ganz einfach viel zu gefährlich, Jemandem zu vertrauen, der sich als reich, attraktiv, bestens vernetzt, sportlich, humorvoll, sympathisch und gebildet ausgibt. Singles, die auf Dating-Plattformen ihr Liebesglück suchen, kennen das: Beim ersten Date ist die Frustration groß, wenn der Traummann bzw. die Traumfrau auf seinen eigentlichen Kern  zusammenschrumpft. Man hat Zeit, Energie und Vertrauen in eine Blase investiert, die nun zerplatzt. Man wurde anscheinend belogen.

Selbstreflektion und Wahrhaftigkeit

Das Einzige, was hilft, um in diesen fragilen Zeiten Geborgenheit und Anerkennung zu erfahren, ist Authentizität. Um der digitalen Flut an Behauptungen und Versprechungen zu entkommen, ist es am Besten, ehrlich zu sein und den eigenen Instinkten zu trauen. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen sich mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen – sie suchen nach der Wahrheit hinter den Erscheinungen, um vertrauen zu können und Vertrauen zu verdienen.

Ich neige wahrscheinlich schon immer dazu, aus jeder Situation das Positive zu ziehen, doch vielleicht ist diese Netflix-Serie „The Circle“ ein Fingerzeig für alle, die daran glauben, dass die Menschen sich weiterentwickeln und an Intelligenz, Selbstreflektion und Empathie gewinnen. Es ist gar nicht so schwer, mit den eigenen Schwächen und Fehlern zu leben, wenn man offen darüber sprechen kann!

Also vielleicht einfach mal zwei, drei Folgen durchhalten und verfolgen, wie sich die Kandidaten der Doku-Soap „The Circle“ verhalten. Einfach mal beobachten, ob Intrigen die beste Möglichkeit sind, um an Beliebtheit zu gewinnen, oder Hochstapelei nützlich ist – oder Bescheidenheit und Fehlerhaftigkeit zu Sympathie und Vertrauen führen.
Hier also der Trailer der Netflix-TV-Show – mal was ganz Anderes in der Welt der Spanner und TV-Voyeure…

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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