Immer wenn ich mit Bildungsbürgertum-Angehörigen ab 50 zusammenkomme, erlebe ich Ähnliches: „Ich gehe nicht in soziale Netzwerke, dort herrschen primitive Selbstdarstellung und Oberflächlichkeit. Ich schütze meine Privatsphäre und wehre mich gegen die Datenkraken, indem ich mich Facebook und Co verweigere. Ich lese meine Zeitung in Print, informiere mich politisch über das öffentlich-rechtliche TV und benutze mein Handy für WhatsApp und zum Telefonieren.“ Meine Entgeisterung kann man sich leicht vorstellen, wenn man mich kennt. Es ist tatsächlich immer Dasselbe: Die Angst vor dem Fremden führt im digitalen Bereich zu den gleichen typischen Vorurteilen und Behauptungen wie man sie schon kennt gegenüber Ausländern, der Jugend von heute, Arbeitslosen etc. Nur ist die Form des digitalen Rassismus ganz besonders verheerend, weil wir unsere älteren Entscheider und politisch interessierten Bürgerinnen und Bürger so dringend brauchen!
Täglich werden Ängste geschürt – schade!
Eigentlich kann ich meiner Generation nicht übel nehmen, wenn sie wie Analphabeten über das Social Web urteilen. Tagtäglich werden sie über ihre analogen Medien geimpft mit Aussagen über digitale Kommunikationskanäle, die abschreckend wirken sollen – das prägt! „Fake-News“, „Hater“, „Ausgespäht“, „Arbeitsplatz verloren wegen Nacktfoto im Web“, „Jugendliche verdummen durch Smartphone“… wer gläubig die offiziellen Nachrichtenmedien verfolgt, muss ja so werden wie in den fünfziger Jahren die weißen Amerikaner, die ständig hörten, wie es in Schwarzafrika zugeht – und bei den entlassenen Sklaven in ihrer Nachbarschaft.
Was hilft gegen Digital-Rassismus?
Das Einzige, was gegen diese Art von Digital-Rassismus wirkt, ist Kontakt und Transparenz durch Aufklärung.Nur wenn ich selbst das riesige, unendlich vielfältige Reich der digitalen Kommunikation erkunde, kann ich ein fundiertes Urteil fällen, ob es tatsächlich so ist, dass sich dort nur Rechtsradikale und Schläger herumtreiben. Nur wenn ich mir meine eigenen Kontakte aufbaue über Facebook, Twitter und Co, kann ich sehen, ob in diesen selbstgewählten Netzwerken nicht womöglich ein Schatz schlummert, der es mir ermöglicht, den gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten und aktiv daran zu arbeiten, dass Bürgerrechte, Wohlstand, gesunder Planet und soziale Gerechtigkeit tatsächlich eine Chance erhalten.
Es gibt viel zu tun
Das es eine Menge zu tun gibt, wird wohl niemand bestreiten. Können es sich wirklich die Menschen 50+ erlauben, sich da komplett herauszuhalten? Ist Stuttgart 21 tatsächlich wichtiger als die ungezügelte Vermessung und Entmenschlichung von Politik und Wirtschaft? Gerade ältere Menschen diskutieren viel über Politik, machen sich viel Gedanken über die Zukunft ihrer Kinder, sehen mit Sorge, wie seit den Achtzigern viele demokratische Errungenschaften und die gesellschaftliche Teilhabe verkümmert.
Armut nimmt zu, Bildung nimmt ab, Sicherheit und Zukunft sind für immer weniger Gesellschaftsschichten vorhanden – und unsere Kinder werden beruflich so stark gefordert, dass sie kaum noch in Ruhe Familien gründen können – es sei denn, mit Unterstützung der Eltern. Ist das alles so richtig? Oder ist es eine Art passiver Widerstand der finanziell abgesicherten Generation 50+, sich der digitalen Beschleunigung und Globalisierung zu verweigern? Nützt das irgendjemandem? Oder ist es ganz einfach Faulheit oder die Angst, sich vor den Jungen zu blamieren, wenn man sich einfindet in die digitalen Netzwerke?
Verblendet durch klassische Informations- und Nachrichtenmedien
Es ist ja verständlich, dass sich Verlage und klassische Medien wie TV durch das Social Web bedroht fühlen – schließlich wird ihnen durch diese Veränderung der Kommunikation die Haupteinkommensquelle abgedreht. Man versucht durch Einschüchterung, Kontrolle, Gesetze und weitere Beeinflussung der Politik und Interessensverbände, diese Flut an Menschen, die dank digitaler Möglichkeiten ihre Quellen selbst wählen können – und selbst eine Stimme bekommen haben – zurückzudrängen. Würde ich auch so tun, wenn mir ein etablierter Sender oder Zeitungsverlag gehören würde.
Die Tagesschau-Zuschauer sind im Schnitt älter als 60! Das muss Einem doch zu denken geben! Leben die deutschen wohlsituierten staatsloyalen Bürger wie in einem Zoo, in den von außen (also vom echten Geschehen auf der ganzen Welt) kaum noch ein Laut durchdringt bis ins heimische Wohnzimmer? Wie lange schaffen es diese Bildungsbürgerschichten noch, sich einzureden, ihre Unwissenheit und fehlende Medienkompetenz seien ein Zeichen von Würde und elitärer Selbstbestimmung?
Berechtigte Verurteilung oder ignoranter Hochmut?
Meinen unsere 50+Bürgerinnen und Bürger wirklich, sie wären weniger manipuliert als Diejenigen, die sich tagtäglich im Social Web informieren, die dort gemeinsam diskutieren und sich darum bemühen, in einer globalisierten Welt für Frieden, Wohlstand und gesundem Lebensumfeld einzutreten? Kann es sein, dass dieser gern geäußerte Hochmut nichts weiter ist als die Unfähigkeit, mit Neugierde und Fleiß hinzuzulernen und sich bescheiden einzuarbeiten?
Es ist so einfach, mitzumachen im Social Web!
Es ist nicht schwer, den Weg ins Social Web zu finden. Es ist auch nicht schwer, die Menschen dort zu identifizieren, die wertvollen Content liefern und mit denen es sich lohnt, sich zu vernetzen. Es ist nicht schwer, sich über die Tastatur und über das Smartphone auszutauschen und gemeinsame politische und gesellschaftsgestaltende Projekte anzustoßen.
Politik komplett den Lobbyisten und Investoren zu überlassen, das ist schlimm. Das ist besonders schlimm, weil die Älteren, die mit guter Altersabsicherung wahrscheinlich als die letzte Generation in unserer Gesellschaft schon mit 60, 65 in den Ruhestand gehen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen können, mit einer solchen Einstellung brutal auf dem Rücken ihrer Kinder und Mitmenschen leben, ohne Verantwortung zu übernehmen.
Es gibt viel zu tun
Es gibt viel zu tun, um die neue Weltordnung aus Menschlichkeitssicht zu gestalten. Arbeit und soziale Absicherung, Vermögen und Besitzordnung, Bürgerrechte und Privatsphäre, Heilung des Planeten und der Lebensbedingungen auf der Erde, Frieden und Völkerrecht, Bildung und Selbstbestimmung… die Themen sind unendlich und er Handlungsbedarf ist groß und drängend. Es kann nicht sein, dass die Skrupellosesten und Mächtigsten in aller Ruhe die digitalisierte Welt unter sich aufteilen, ohne dass es eine wirksame Gegenbewegung gibt.
Sollen doch die Jungen die Politik übernehmen
Gut, man kann nun sagen, dass diese politische Arbeit traditionell den Jungen zusteht und die „Alten“ sich schwertun mit Veränderungen, doch das kann ich nicht so hinnehmen. Zum Einen sind in Deutschland fünfzig Prozent der Bevölkerung 50 und älter, und zum Anderen stehen die Jungen beruflich und persönlich so stark unter Druck, dass sie nicht mehr die Ressourcen haben wie früher, sich zum Beispiel im Studium mit Demos und politischen Diskussionszirkeln und außerparlamentarischen Oppositionen zu beschäftigen. Widerstand ist in unserem Wohlstandsland nun etwas gerade für die, die nicht mehr erpressbar sind und die sich frei bewegen können.
Denkt an Eure Nachkommen und steht endlich auf!
Denkt an Eure Enkel, die in öffentliche Schulen gehen, in denen es womöglich durch die Decke regnet. Denkt an Eure Kinder, die ein oder zwei Kinder bekommen und den ganzen Tag damit beschäftigt sind, irgendwie den Alltag zu organisieren – die ständig gestresst sind und kaum durchatmen können. Denkt an die wirklich Alten, die einsam und hilflos dahinvegetieren, weil sich niemand für sie vom Herzen her verantwortlich fühlt. Denkt an die Armen, die perspektivlos die Kunst des Überlebens üben müssen und die den Glauben an sich selbst verloren haben.
Ich bitte zu diesem Weihnachtsfest alle jungen Menschen, Werbung zu machen bei ihren Eltern für das Social Web und ihnen dabei zu helfen, einen Account bei Facebook und Twitter einzurichten. Der Rest ergibt sich dann schon von allein. Sie werden sehen, wie faszinierend es ist, das Weltgeschehen in Echtzeit über Twitter zu verfolgen, sie werden erleben, wie schön es ist, mit den anderen „Haudegen“ über Facebook verbunden zu sein und gemeinsam dazu beizutragen, politische Wahrheiten und Meinungen in die Welt zu tragen.
Schimpft ruhig über die etablierten Parteien, an die ihr früher geglaubt habt! Fordert die Abgeordneten in Euren Gemeinden heraus und hinterfragt ihre PR! Mischt Euch ein und stört das Getriebe, so wie Ihr es als junge Leute getan habt! Was würde wohl ein Rudi Dutschke tun, wenn er heute noch leben würde? Würde er in Print Tageszeitung und Spiegel lesen und sich ansonsten nur um seine Freizeit und seine Enkel kümmern? Und dabei immer gern betonen dass er ja heute weniger Zeit hat als früher, als er noch arbeiten musste? Weil seine Frau den Tagesablauf bestimmt und er ständig in den Urlaub fahren muss und zu Konzerten, Familientreffen und ins Theater gehen? Nein, das akzeptiere ich nicht länger. Lasst uns die Alten ins Netz holen und endlich eingreifen ins politische Leben. Alles Andere wäre egoistisch, ignorant und verantwortunglos. Punkt.
Habe ich heute gefunden im Social Web: Ein Video mit Cordt Schnibben, Journalist, „Der Spiegel“, Mitgründer Reporter-Forum, Leitungsmitglied, am 5. Dezember 2016 mit 17 Thesen zu Politik und Journalismus im digitalen Zeitalter. Vielleicht hilft es ja, mal über seine 17 Thesen nachzudenken!