Mangel wird erlebt durch Schmerz. Hunger, Durst, Kälte, Einsamkeit, Angst, Gewalt… Erleben Menschen Mangel, ohne diesen mit dem Leben von Menschen vergleichen zu können, denen es besser geht, sind sie geschwächt, traurig, im schlimmsten Fall dem Tode ausgeliefert, wie in dem Märchen von Hans Christian Andersen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“. Eine der Besonderheiten des Menschseins ist tatsächlich das Gerechtigkeitsempfinden, das sich schon bei Kleinkindern zeigt.
Das Erwachen des Gerechtigkeitsempfindens ist sowohl die Basis von prosozialem Verhalten (von Güte und tätiger Hilfe), als auch die Basis für Aggressivität und negatives Verhalten, wenn das Kind sich selbst als hilflos ausgeliefertes Opfer von Ungerechtigkeiten empfindet.
FAZ: So klein und so gerecht
Das barfüßige Mädchen im Schnee mit den Schwefelhölzern beobachtet zwar durch die Fenster die wohlhabenden Familien, die den Silvesterabend am warmen Kamin mit Gänsebraten feiern, doch es hat kein Empfinden für Ungerechtigkeit, Neid oder Hass – es stirbt ganz einfach allein vor sich hin…
Friedrich Nietzsche formulierte den Sinn für Ungerechtigkeit so: „Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit.“
Ungerechtigkeit gehört zum Leben dazu. Führten wir ein Leben in Gerechtigkeit, wären wir nicht auf diesem Planeten. Da gibt es zum einen die unzähligen Ungerechtigkeiten, die schon durch das wo, wie und wann der Geburt vorprogrammiert sind, und zum anderen die individuelle Bewertung von richtig und falsch, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausfallen. Ins Leben zu springen, heißt, in die Akzeptanz der Ungerechtigkeit springen.
Ungerechtigkeit und Widerstand
Ungerechtigkeit erleben wir in verschiedenen Rollen. Zum einen als Zuschauer, Zeuge, Retter oder Täter, wenn unseren Mitmenschen Unrecht widerfährt. Wir erleben ungerecht behandelte Mitmenschen in der Schulklasse, in der Familie, in der Nachbarschaft, auf der Straße oder im beruflichen Team.
Zum anderen konsumieren wir Ungerechtigkeit über Medien. Die arme Mutter, die vom Mann im Stich wurde, erregt unser Mitleid genauso wie das verstoßene Kind. Der egomane, korrupte Politiker, aber auch der Straftäter, der eine viel zu geringe Strafe erhält, weckt unseren Zorn. Hierbei sind wir Unbeteiligte, Zuschauer, die „nicht gefragt“ werden. Darüber regen wir uns auf, können unser Empfinden für Ungerechtigkeit mit Empörung oder herzzerreißendem Mitleid ausleben.
Doch den größten Anteil unseres Gerechtigkeitssinns stecken wir in die Ungerechtigkeiten, die uns angetan wurden – von Familie, Gesellschaft, vermeintlichen Freunden… kurz: von denen, die die Möglichkeit haben, uns schlecht zu behandeln. Von denen, denen wir vertrauten, weil wir sie liebten.
Wehrt Euch, leistet Widerstand …
In der Arbeiterbewegung war und ist die Empörung über Ungerechtigkeiten viel entscheidender als das Erleben von schrecklichem Mangel. Selbst, wenn die Kinder erkranken und sterben ohne ärztliche Versorgung, selbst wenn die Lebens- und Arbeitsbedingungen unerträglich sind – erst, wenn das Gefühl von Gerechtigkeit erwacht, erwacht auch der Kampfeswille.
Heute leben wir in einer Welt, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Besonders seit der Corona-Zeit hat sich diese Entwicklung zugespitzt.
Macht und Geld konzentrieren sich in immer weniger Händen, während in den Hochburgen des Reichtums wie San Francisco und Los Angeles – aber auch Frankfurt – die Zahl der Obdachlosen ins Unermessliche zu steigen scheint.
Widerstand möglich?
Es ist kaum zu erwarten, dass die Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, aus sich heraus eine Widerstandsbewegung gegen die Mächtigen und Vermögenden gründen. Zwar steigt die Gewalt- und Kriminalitätsrate bei Menschen, die in Armut und Mangel von Tag zu Tag überleben, erheblich und wird somit zur Bedrohung für die „systemkonformen Bürger“, doch Widerstand fußt darauf, dass der wachgerufene Gerechtigkeitssinn gepaart ist mit einem Stolz auf sich selbst, auf die Familie, auf Freunde, auf Vorbilder und Mitmenschen im persönlichen Erleben.
Wann erheben sich die Armen?
Schaut man in die Geschichte, gibt es bei Aufständen von den Ärmsten immer charismatische Anführer/Innen, die den Mut und den Widerstandsgeist der Entrechteten anfachen konnten. Auch wenn rückblickend meistens solche Aufstände in schrecklichen Kriegen und blutgeschwängerten Revolutionen gipfelten, sind sie immer wieder notwendig, um dem Unrecht einen neuen Anfang entgegenzusetzen.
In vielen Ländern dieser Erde steigt die Wut der Armen, der Mangelleidenden, der Entrechteten und derer, die Verfolgung, Siechtum und Tod ausgesetzt sind. Kann schon sein, dass sich irgendwo auf der Welt eine charismatische Führerfigur erheben wird wie einst Jeanne d’Arc, Martin Luther, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Häufig haben Intellektuelle und Künstler den Boden bereitet für Revolutionen – Gorki und Tolstoi am Vorabend der Russischen Revolution, Voltaire als intellektueller und philosophischer Bereiter der Französischen Revolution.
Niemand weiß, wo, wann und warum sich der nächste Aufschrei gegen die menschliche Ungerechtigkeit zu einem Flächenbrand ausbreiten wird. Aber eins ist klar: Ohne dieses wunderschöne Empfinden für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wäre der Mensch ausgeliefert wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern – und das wäre doch jammerschade, nicht wahr?